Full text: Prosa für Lehrerseminare (Teil 3)

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Nationen, die Erben der lateinischen Sprache und Bildung. Darum 
waren die germanischen Völker, und vor allen das deutsche, weil es 
das mächtigste ist, berufen, jene Weltaufgabe der Renaissance zu lösen : 
mit dem hellenischen Geist eine eigenartige deutsche, von der lateinischen 
5 Überlieferung unabhängige Verbindung einzugehen und durch eine neue 
Art der Nachahmung, die aufhört, Nachahmung zu sein, die eigene 
Originalität zu bekräftigen. Dies ist die Nachahmung, die Winckel- 
mannZ und Lessing verkündeten, der Weg, den sie brachen und 
vorangingen, die unvergängliche Geistestat, die ihren europäischen Ruhm 
10 ausmacht. Was einzelne mit Horaz?) und Anakreon^) spielend und 
tändelnd versucht haben, mit diesen Dichtern wie mit Freunden zu leben: 
das sollte im Hinblick auf das gesamte griechische Altertum, auf die 
Originalwerkö' der Hellenen in Kunst und Poesie durch eine tiefe, wahr¬ 
haft lebendige und nachschaffende Erkenntnis derselben erfüllt werden. 
i5 Gleich im Eingänge seiner ersten Schrift erklärte Winckelmann: „Der 
einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich 
;u werden, ist die Nachahmung der Alten, und was jemand von 
Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundere, der ihn wohl verstehen 
gelernt, gilt auch von den Kunstwerken der Alten, besonders der 
20 Griechen. Man muß mit ihnen wie mit seinem Freunde be¬ 
kannt geworden sein, um den Laakoon ebenso unnachahmlich als 
den Homer zu finden. In solcher genauen Bekanntschaft wird man 
wie Nikömächos^) von der Helena des Zeuris^) urteilen: „Nimm 
meine Augen," sagte er zu einem Unwissenden, der das Bild tadeln 
25 wollte, „so wird sie dir eine Göttin erscheinen." 
Das Ziel, das wir erreichen sollten, läßt sich mit wenigen 
Worten auf das klarste erleuchten. Goethe ist oft und mit 
Recht eine hellenische Natur genannt worden; er war es ohne 
alle Schule griechischer Gelehrsamkeit. Shakespeare war keine hel- 
30 lenische Natur und kein griechisch Gelehrter, aber durch das Genie 
und die Macht seiner Schöpfungen ein den Alten ebenbürtiger Dichter. 
Denn die Verwandtschaft schöpferischer Naturen ist allemal größer 
und echter als alle durch die Schule gemachte und erkünstelte Ähnlich¬ 
keit. Diese in der Originalität und im Genie begründete Verwandt- 
35 schaft erkannte Lefsing und^wies darum zugleich auf die Alten und 
Shakespeare. ,^Denn ein Genie kann nur an einem Genie entzündet 
x) Joachim Winckelmann (1717—1768), der Schöpfer der neuern Kunst¬ 
geschichte. 2) s. S. 169 Anm. 1. 3) Griechischer Lyriker (550—478). 
4) Griechischer Maler (4. Jhdt. v. Chr.). 
5) Griechischer Maler (420—380). Die „Helena", gemalt für den Tempel 
der Hera bei Kroton, war eins seiner berühmtesten Werke.
	        
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