Full text: Geschichte der neuesten Zeit (Teil 4)

Die Schutzzollgesetze. V 3e—4s. 
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Dampfschiffahrt, die Fracht aus Nordamerika und Argentinien, aus In- 
dien und Australien mit ihrem jungen und ausgedehnten Weide- und Ge- 
treideboden so billig, daß der deutsche Landmann gegen diesen Wettbewerb 
den Markt nicht zu halten vermochte. Da fuhr denn mancher hinüber in 
die Vereinigten Staaten und erwarb für wenig Geld eine Farm, die seinen 
Fleiß reichlicher lohnte als die heimischen Äcker; oder er verarmte völlig 
und zog in die Stadt, wo er mit Frau und Bindern das Heer der Fabrik- 
arbeitet vermehrte und durch sein Arbeitsangebot die Löhne herabdrückte. 
2. Im Reichstag wurden die Angelegenheiten der Industrie vor- 
wiegend durch Liberale, die der Landwirtschaft durch die Konservativen 
vertreten. Waren die Liberalen besonders in dem gewerblichen Westen 
gewählt, so beherrschten die Konservativen vorwiegend den Nordosten mit 
seinem ausgedehnten Ackerbau und seinen „agrarischen" Interessen. 
In unserem östlichen Kolonialgebiet hatten sich dereinst inmitten der 
Bauern auch zahlreiche Adlige niedergelassen. Sie unternahmen gelegent- 
lich Kriegszüge im Dienste des preußischen Ordenslandes, und in der Heimat 
lag ihnen die Abwehr slawischer Einfälle ob. Zum Entgelt überließen 
ihnen die Markgrafen von Brandenburg die richterliche Gewalt. So trat 
der „Junker", auch wenn er friedlich als „Krautjunker" lebte, an die Stelle 
des Landesherrn: ihm leistete der Bauer Abgaben und Fronden, und der 
Grundherr gewährte ihm dafür Anteil an der Ernte des „Rittergutes" oder 
eine Hütte (Käte) mit einem bescheidenen Stück Feld, auf dem er seine Nah¬ 
rungsmittel, späterhin hauptsächlich Kartoffeln, selbst anpflanzen konnte: 
in Fritz Reuters „Stromtid" spielt das „Tüftenland" des Tagelöhners 
noch eine bedeutsame Rolle. Der Gutsherr war sein fürsorgender Berater, 
der gern das Erntefest mit seinen „Leuten", den Kätnern und dem Ge¬ 
sinde, gemeinsam beging: so vor hundert Iahren König und Königin in 
Paretz, so Bismarcks Familie auf dem pommerischen Gute Varzin. 
Seit Hardenbergs Gesetzgebung machte sich der Junker nicht selten die 
Not des Bauern zunutze, um ihm Haus und Hof abzukaufen; und der 
Bauer wanderte zur Erntezeit in die westlichen Provinzen ab, zunächst nach 
Sachsen, wo bessere Löhne bezahlt wurden. Die „Leutenot" zwang dann 
den Gutsherrn, polnische Sommerarbeiter einzustellen. 
Herrschte die „Sachsengängerei" nur in dem dünn bevölkerten Ost- 
elbien, so lasteten die niedrigen Korn- und Fleischpreise im ganzen Reich 
auf dem Landwirt, und die konservative Partei machte sich nun zur Vor- 
kämpferin für die gesamte deutsche Landwirtschaft. 
3. Da prüfte Bismarck in einem längeren Urlaub in Varzin diese Übel- 
stände. Ihm entging nicht der Schaden, den die zollfreie Wareneinfuhr 
unserer Landwirtschaft wie dem emporstrebenden Eroßgewerbe Brachte.
	        
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