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Geschichtliche Rundschau.
§. 644.
Denn wie muthig und entschlossen auch alle liberale Deutsche zusammenhielten; was der-
mochten die patriotischen Anstrengungen gegenüber dem Einfluß, den die Regierung, die
Fendal-Ultramontanen, der Großgrundbesitz, der engherzige Partimlarisnms in die Wag-
schale zu legen hatten! Die Anhänger der Idee der Staatseinheit waren nicht stark genug,
die Pläne der Regierung und der Gegner zu Falle zu bringen. Schon wurde auf dem
Prager Landtag, wo die Czechen den Ausschlag gaben, eine Landesordnung entworfen,
nach welcher Böhmen in allen wichtigen Angelegenheiten auf sich selbst gestellt, die Ver.
biuduug mit Oesterreich und dem Wiener Reichsrath auf eine« internationalen Vertrag
beschränkt war. Diese neue Staatsverfassung sollte auf einem frisch zu wählenden
„Krönungslandtag" bestätigt und von dem Kaiser in einem „Majestätsbrief" dem böh-
mischen Volke verkündigt werden. Hätte der Monarch die „Fundamentalartikel" dieser
neuen böhmischen „Magna Charta" genehmigt, so dursten die andern Nationalitäten in
dem österreichischen Völkergewimmel dieselben Rechte in Anspruch nehmen; die Reichs-
einheit war dann nur ein leeres Wort, die gemeinsame Monarchie ging in die „Vers
einigten Staaten von Oesterreich" über, die von centrisugaler Kraft bewegt bald nach
allen Richtungen der Windrofe auseinander gehen mußten. So weit sollte es jedoch
nicht kommen. Dem Kaiser war die Bedeutung des Ausgleiches mit der „politischen
Nation der Böhmen" klar gestellt worden. Er hielt mit der Bestätigung der „Fuuda-
mentalartikel" zurück und traf dann die Entscheidung, daß die bestehende Verfassung fammt
bcm Reichsrath (§. 591) der gemeinsame Rechtsbodcn sei, und daß alle Abändernngs-
Vorschläge auf diefem Reichsgesetz beruhen müßten. Damit fiel das System der „historisch-
politischen Individualitäten" zu Boden; das Ministerium Hohenwart-Schäffle begehrte
80. O-t. und erhielt feine Entlaffnng und den Slaven in Böhmen und Galizien blieb nichts
1871. flfoig, als durch Opposition die Regierung zu lähmen. - Den größten Antheil an dieser
Wendung hatte der Reichskanzler Beust; bei den Deutschen Oesterreichs gewann er des-
halb mehr Ansehen uud Popularität, als er jemals besessen. Es erregte daher großes
Erstaunen, daß derselbe Mann wenige Tage nachher seines hohen Amtes enthoben und
#. Nov. Botschafter nach London gefandt ward. Die öffentliche Meinung in Deutschland hatte
stch mit ihm ausgeföhut; um so heftiger zürnte ihm die reactionäre partienlarlstifche Hos-
Partei, die das gefallene Ministerium auf die Schaubühne gehoben, die Ultramontanen,
die Feudalen, die Slaven. „Daß Beust kein geborener Oesterreicher, sogar Protestant,
nicht vom hohen Adel und doch Reichskanzler war, das Eoncordat aufgehoben und gute
Beziehungen mit dem deutschen Reiche angeknüpft hatte, das waren in den Augen dieser
modernen Erinnyen eben so viele Todsünden." Die aufgeregten Geister schrien nach Rache;
so wurde ihnen denn Beust zum Opfer gebracht.
§. 644. Oesterreich in den Jahren 1873 bis 1878. Die österreichische Politik
erlitt durch Beusts Abgang keine Aenderung; denn Graf Andrassy, bisher Minister-
Präsident in Ungarn, der den Slaven gegenüber die Ansichten Beusts theilte, wurde sein
Nachfolger im Reichsministerium. In Pest übernahm Graf Lonyay die Leitung des
14 Nov. Ministeriums für Ungarn, während in Wien Fürst Adolf Auersperg, Bruder des
Dichters, an die Spitze der Staatsregierung in Eisleithanien trat. Erhaltung der Ver-
faffung und des Gefammtstaats gegenüber den Absonderungsgelüsten der Slaven und
Zusammengehen mit dem deutschen Reiche in allen wichtigen Fragen war das gemeinsame
Programm' Wie sehr auch immer die feindlichen Mächte des vielgegliederten Staates,
„Nationalismus", „Klerikalismus", „Feudalismus", den deutsch-liberalen Ideen entgegen-
streben mögen, dennoch bleibt dem germanischen Element und dem deutschen Wesen in
Oesterreich die Ausgabe gestellt, das Ganze mit seiner Guttut zu umfassen, zu durchdringen
und zusammenzuhalten. Nur an der Hand deutscher Bildung können die statischen
Bölkertheile zu einem Enlturleben emporsteigen. Durch die große Wahlreform, am Ende
März des Jahres 1872 eingebracht und im folgende,! März von beiden Häusern angenommen,
187& welche den Reichsrath auf die breite Basis der Volkswahlen in allen Laudestheileil stellte,
die Sonderlandtage auf ihre eigenen Angelegenheiten beschränkte, ward der Weg betreten,