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Gerlinde empfing am Abend die beiden Jungfrauen mit furcht¬
barem Schelten und Toben. Gudrun sollte an einen Bettpfosten
gebunden und so lange mit dornigen Ruten gepeitscht werden, bis
die Haut sich vom Gebein ablöse. Um sich zu retten, stellte sich
Gudrun, als wollte sie am nächsten Tage Hartmut heiraten. Sofort
wurden ihr königliche Kleider gebracht, und sie durfte mit ihren
Gespielinnen einen heitern Abend verleben, wobei sie zum erstenmal
seit 13 Jahren wieder hell und fröhlich lachte.
Am nächsten Morgen standen Herwig und Ortwin mit ihrem
Heere vor der Königsburg, und .es begann ein grausiger Kampf.
Der wilde König Ludwig wurde von Herwig erschlagen. Hartmut
unterlag ritterlich kämpfend dem riesigen Wate und würde auch
getötet worden sein, wenn nicht der edelmütige Herwig auf einen
Wink Gudruns den Gegner gerettet hätte.
Die Frauen schauten von oben dem Kampfe zu. Als die böse
Gerlinde den Übeln Ausgang gewahrte, gab sie einem Diener den
Auftrag, Gudrun hinterrücks zu durchbohren; aber Hartmut ver¬
hinderte noch rechtzeitig die schurkische That. Nun kam die Angst
vor dem Tode über die harte Gerlinde; sie fiel Gudrun zu Füssen
und flehte um ihr Leben. Gudrun gedachte all der unmenschlichen
Misshandlungen und wollte sie von sich stossen; aber ihr edles,
weiches, frommes Herz siegte über diese Regung des Unwillens.
In vergebender Liebe verbarg sie sowohl Gerlinde wie auch die
andern Frauen, die ihr Qualen zugefügt hatten. Der „schwert-
grimmige“ Wate aber fand die „wölfische“ Gerlinde doch heraus
und tötete sie. Ortrun und ihr Gesinde wurden auf dringendes
Bitten Gudruns verschont. Nun stürmte Herwig in den Saal und
schloss jubelnd die treue Geliebte in seine Heldenarme.
VI.
Gudruns Heimkehr und Hochzeit.
Mit reicher Beute und vielen Gefangnen, unter denen auch
Hartmut und Ortrun waren, zogen die Hegelingen-Recken heim.
Gudruns Mutter Hilde, die schon durch vorausgesandte Boten be¬
nachrichtigt worden war, empfing die so lange Jahre schmerzlich
entbehrte und beweinte Tochter mit wonnigem Entzücken. Die
glückliche, grossmütige und mit Dank gegen Gott erfüllte Gudrun
wollte nun auch andre an ihrem Glück teilnehmen lassen und den
verderblichen Völkerstreit zwischen den Hegelingen und Normannen