Object: Germanisches Sagen- und Märchenbuch

Parzival. 
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Endlich war die Stunde der Einweihung gekommen; unter inbrün¬ 
stigem Gebet und Lobgesang der Templeisen senkte sich die Schale und 
blieb schwebend über dem Altare stehen. Fortan aber erschienen die 
Befehle des Höchsten in Flammenschrift auf dem Rande derselben. 
Dreihundertfünfzig Jahre verbrachte Titurel bereits in treuer 
Pflege des Grals, ohne daß seine Kraft nachließ. Da bekam er eines 
Tages durch die Flammenschrift den Befehl, sich mit der edlen Tochter eines 
spanischen Königs zu vermählen, und zwei liebliche Kinder entsprossen 
der Ehe: Frimutel und Richoude. Ersterer vermählte sich später mit 
einer Königstochter von Granada und gewann mit ihr zwei Söhne, 
Amfortas und Trevrezent, und drei Töchter, Herzeleide, Joisiane und 
Repanse. 
In der Schar seiner Lieben verfloß für Titurel noch gar manches 
Jahr, bis ihm eines Tages die Worte entgegenflammten: „Frimutel 
soll König sein!" Sogleich berief er die Templeisen, weihte seinen 
Sohn ein in die geheimen Regeln und Satzungen und setzte ihm die 
Krone auf das Haupt. Joisiane führte bald darauf der König Kiot aus 
Catalonien heim, und nach deren frühem Tode nahm Herzeleide, die mit 
Gamuret, einem weitberühmten königlichen Helden, vermählt war, ihr 
Töchterchen Sigune zu sich und erzog es zusammen mit Tschionatulander, 
dem Sohne einer Jugendfreundin. Als aber bald darauf Gamuret, 
gegen die Ungläubigen streitend, fiel und übermächtige Feinde in ihre 
Länder Anjou und Valeise einbrachen, da mußte Herzeleide alles verlassen 
und floh mit ihrem kurz vorher geborenen Sohne Parzival („Mitten¬ 
durch") in den Wald Brezilian am Fuße der Pyrenäen. 
Auch an Frimutel sollte Titurel Kummer erleben. Diesen, einen 
tapferen Helden, beengten die Fesseln der heiligen Satzungen, und so zog er 
hinaus zum Kampfe gegen die Mohren; in einem hitzigen Treffen aber 
fiel er in fernem Lande, und auf des Grals Geheiß wurde Amfortas 
zum König gekrönt. Aber auch in ihm schlug das ungestüme Helden¬ 
herz, und gleich seinem Bruder Trevrezent dürstete es ihn nach Kampf 
und Heldentum. In mancher heißen Schlacht kämpfte er. Da stieß ihm 
ein Sarazene einstmals seine Lanze in die Brust, deren abgebrochene 
Spitze in der Wunde stecken blieb. Wohl zog sie Titurel heraus; allein 
sie war vergiftet gewesen, die Wunde eiterte fort, und Amfortas duldete 
unsägliche Schmerzen. Vergebens begehrte er zu sterben; der Anblick 
des Grals erhielt sein schmerzvolles Leben. Tief gebeugt über all dies 
Leid war Titurel und suchte im Gebet Trost und Zuflucht. Da er¬ 
schienen einst am Gral die flammenden Worte: „Murre nicht, dulde, 
ein Retter soll dir erstehen!" Der Retter aber hieß: 
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