Full text: Die Geschichte der neuern Zeit (Bd. 3)

106. Napoleon's Feldzug gegen Rußland, 1812. 691 
der eilige, verworrene Rückzug seit Wilna, ohne Kampf, an Kranken, Deser- 
tirten und Nachzüglern 30-—40,000 Mann gekostet, so daß Barclay schon 
wegen seines beständigen Rückzuges selbst bei der eigenen Armee verdächtig 
geworden war. Und doch hatte dieser Rückzug den Hauptzweck, sich mit der 
zweiten Armee unter Bagration zu vereinigen, was auch bei Smolensk 
gelang. Da war nun nach der Meinung aller Generale das Ziel und 
Ende des Rückzuges. Alles verlangte nach einer Entscheidungsschlacht, Ru߬ 
lands Heer sollte zum Angriff übergehen. Der Kaiser selbst erwartete ent¬ 
scheidende Operationen in diesem Sinne. Barclay ließ sich jedoch nur schwer 
dazu bestimmen und bewegte sich endlich nur unsicher und zögernd vorwärts. 
Als dann Napoleon seinerseits zum Angriff schritt, wich Barclay, nach 
blutigem Treffen bei Smolensk, in dem Gefühl, daß man an dieser Stelle 
dem Feinde nicht gewachsen sei, der Entscheidung aus und ging weiter 
zurück in der Richtung auf Moskau. 
Napoleon folgte ihm in der Hoffnung, zu der entscheidenden Schlacht 
zu gelangen, die er wünschte, und der Krieg begann schon jetzt sich sehr 
ungünstig für ihn zu gestalten. Denn in Alt-Rußland verfuhr man gegen 
die Franzosen, wie einst gegen die Mongolen: die Landleute flüchteten in 
die Wälder, die Vorräthe wurden vernichtet, gegen Nachzügler und Zersprengte 
ein lästiger kleiner Krieg geführt. Das russische Heer fühlte sich durch die 
letzten Kämpfe eher gehoben als entmuthigt, der nationale und religiöse 
Eifer im Volke wuchs, je weiter der Feind vordrang. Eben dies machte 
freilich auch Barclay's Stellung mit jedem Tage schwieriger. Im Volke 
und Heere verstand man seine Vorsicht nicht. Ohnedies galt er für einen 
Fremden (er war ein Liefländer), und schon bei Smolensk hatte er fast eine 
Auflehnung der namhaftesten Ofsiciere (an deren Spitze der Großfürst 
Constantin und Bennigsen standen) erlebt. Der Kaiser sah sich genöthigt, 
der öffentlichen Meinung nachzugeben, in dem Augenblicke, wo er eine gro߬ 
artige Volksbewaffnung versuchen wollte. Er entließ Barclay und gab ihm 
zum Nachfolger den 70jährigen Kutufow, dessen Name durch die Erinnerung 
an Austerlitz freilich keinen vorteilhaften Klang hatte. Aber er war ein 
ächter Ruffe; schlau und biegsam wie ein Höfling, verstand er es besser als 
Barclay, die Massen zu behandeln, und gab bereitwilliger als dieser, der 
Kampflust des Heeres nach. Das alte heilige Moskau ohne Kampf preis¬ 
zugeben war in der That unmöglich. 
So begann denn am frühen Morgen des 7. Sept. mit fast gleichen 
Kräften auf beiden Seiten der lang vermiedene Riesenkampf bei Borodino 
an der Moskwa, hartnäckig und verheerend, wie wenige in der Geschichte. 
Auf einem engen Raum waren 250,000 Menschen, die mit Erbitterung und 
Ausdauer fochten, unter dem Feuer von 1200 Geschützen, zusammengedrängt. 
Um die Mängel ihrer Stellung zu decken, hatten die Rusien vier Schanzen 
angelegt, die, wiederholt genommen und verloren, nach lange schwankendem 
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