Full text: Charaktere aus der neuen deutschen Geschichte vornehmlich in zeitgenössischer Schilderung

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Genossen und Verwandten gegenüber zeigte er den Herrscher in seinem 
Ernst und seinem Pflichtgefühl. Die geistreichen Gesellschafter und 
Freunde blieben zwar dem König, was sie dem Kronprinzen gewesen, 
aber sie regierten den Staat nicht und teilten sich nicht in die hohen 
Ämter und Stellen. Dagegen ward manche schadenfrohe Hoffnung ver¬ 
eitelt, daß der juuge König seinen Groll auslasten würde gegen Wider¬ 
sacher des Kronprinzen. In den Organen und Personen, womit der 
Vater regiert, trat zunächst kein wesentlicher Wechsel ein: vielmehr war 
ein ähnlicher Ton von Sparsamkeit, Strenge und Pflichteifer unter dem 
neuen, wie unter dem alten König durchzufühlen. Aber doch glich die 
neue Regierung der alten nicht; ihre Haltung war freier, geistiger 
und trug in allem Einzelnen ein edleres, humaneres Gepräge. Den 
Generälen empfahl der König Milde gegen die Untergebenen, den 
Ministern genaue Wahrung des Landesinteresses, dem fortan das des 
Fürsten nicht mehr entgegenstehen dürfe, den Sekten verhieß er Duldung, 
der Presse ließ er einen freieren Spielraum, die Rechtspflege sollte 
unabhängig sein, aus dem Strafprozeß begann die Folter zu ver¬ 
schwinden. Das Heer wurde gemehrt, aber auch drohender materieller 
Not gesteuert, die friedlichen Künste des Gewerbefleißes, der Wissenschaft 
und der Kunst nicht vernachlässigt. So waren die ersten Anfänge der 
neuen Regierung. 
Darum empfing ihn nicht etwa nur der geläufige Jubel, der von 
dem Reize des Neuen bestimmt, jede juuge Regierung begrüßt; es ging 
vielmehr eine Ahnung durch die Gemüter, daß das Erbe an Wohlstand 
und kriegerischer Macht, wie es der Vater hinterlassen, hier auf einen 
Fürsten übertragen ward, der die Kraft und deu Ehrgeiz besaß, dies Über¬ 
lieferte in großer und eigentümlicher Art zu erweitern. Denn zu der 
sparsamen und strengen Art kam hier die schöpferische Kraft eines über¬ 
legenen Geistes, der das Ererbte nicht nur nützte und mehrte, sondern 
ihm mit genialer Eigentümlichkeit eine neue, ungewohnte Bedeutung 
verlieh. Ohne das Pedantische und Bizarre des Vaters und doch wieder 
an schlichter, kerniger Manneskraft ihm ähnlich, zeigte sich der neue 
Monarch gleich anfangs dazu berufen, nicht allein die überlieferte Macht 
zu erweitern, sondern auch deu Gedaukeu und Ideen einer Zeit, deren 
Kind er war, eine Geltuug zu schaffen, die weit über den begrenzten 
Raum des preußischen Staates hinausging. 
Fünf Monate, nachdem er den Thron bestiegen, starb Kaiser Karl VI.; 
jetzt bot sich ihm die Gelegenheit, seinem Staate den Zuwachs an Macht 
und Ansehen zu erwerben, den die Königswürde von 1701 bedurfte, 
aber noch nicht besaß. Indem er sich gegen die habsburgische Haus¬ 
macht erhob, mit Frankreich verband und in Karl VII. ein Kaisertum 
schaffen half, das ohne Gefahr für ihn felber war, förderte er die fchon 
weit vorgeschrittene Auflösung der Formen des Reiches und schuf dem 
preußischen Staate jene europäische Stellung, zu welcher einst der Große 
Kurfürst den Grund gelegt, und zu deren Ausbau dessen beide Nachfolger 
die Mittel vorbereitet hatten.
	        
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