Full text: Charaktere aus der neuen deutschen Geschichte vornehmlich in zeitgenössischer Schilderung

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in betn er sich eingeschlossen hatte, eingedrungen; er hat sich zur Wehr 
gesetzt, sich bann aber selbst eine Kugel vor bm Kopf geschossen; boch 
hat er sich noch nicht getötet. 
Dies bas schreckliche Ereignis, bas Zweite binnen bm Wochen von 
berselben Tendenz, nur noch bebachter nnb gefährlicher als bas erste. 
Wollte man unter allen Deutschen, bie leben, einen Mann aufsuchen, 
ber sich ant meisten eignete, Kaiser zu sein, so würbe ber alte Held und 
König wohl allen anbern vorangehen. Und bie ganze Nation schien 
nichts mehr zu wünschen als eben bas Kaisertum. Eigentlich ist nie¬ 
mals Glück bei beut beutscheu Kaisertum gewesen. Die großen Häuser 
— bas sächsische, bas salische, staufische — siub darüber zu Gruube ge- 
gaugeu. Der erste Österreicher, ber es zur Geltung zu bringen bachte, 
ist barüber getötet worben. Ludwig ber Bayer ist mitten im Abfall 
gestorben; für bie Luxemburger war ber Besitz bes Kaisertums ber 
Anlaß zur Auflösung ber großartigen Lanbesherrschast, bie sie sich grün¬ 
beten. Karl V., betn es noch einmal gelang, bie Macht bes Fürsten¬ 
tums zu brechen, ist bemselben boch zuletzt erlegen. Die späteren be¬ 
saßen bie Macht nicht, sie suchten sie neu zu erwerben ober sich ihrer 
zu beit Zwecken ihres Hauses zu behielten. Glücklich ist eigentlich keiner 
gewesen • bie Sympathie ber Nation hat in ber That keiner von allen 
gehabt; eine solche hat sich immer bloß au bas territoriale Fürstentum 
angeschlossen. 
i)aß nun ber König von Preußen, ber Fürst ber Militärmacht, die 
boch eigentlich im Gegensatz mit bettt Inhaber bes Kaisertums gebildet 
worben, oies selbst in bie Hanb nahm, lag eigentlich nicht ans seinem 
Weg. D.r nächste Erfolg ist gewesen, baß bie kräftige Organisation 
ber Monarchie bnrch bie Rücksicht auf bie anbei’en Territorialmächte, 
welche sie nehmen mußte, mehr gelockert als gekräftigt worben ist. Bei 
ber ersten Begrünbnng bes Norbbeutscheu Buubes hörte ich Gesanbte ber 
kleineren und mittleren Mächte sagen: man werbe von ihrer Seite mehr 
Einfluß ausübeu als erfahren; sie wollten Borussien germanisieren, nicht 
Germanien bornssifizieren. Dem Kaiser Wilhelm muß mau uachrühmeu, 
baß er nach seinem Kaisertum niemals getrachtet, sonbern es nur gerabe 
angenommen Hat, gleichsam als Preis für beit Sieg. Er würbe aber 
babei noch in einen anbetn Wiberfprnch verwickelt. Zwar war bei feiner 
Erhebung zum Kaisertum kein populäres Parlament wirksam, wie bas, 
besten Anerbietungen Friedrich Wilhelm IV. ablehnte; es warb von ben 
Fürsten und freien Städten dargeboten. Aber bie Ideen jenes Parla¬ 
ments beherrschten bennoch bie Geister. Sie mußten berücksichtigt werben, 
da in den verschiedenen Territorien fast überall zwei Parteien einander 
gegenüberstanden, von denen die eine, mehr konservative, für das einge¬ 
borene Fürstentum, die andere, mehr liberale, für das Reich Partei 
nahm. Dieser aber mußte man durch die Reichsgesetzgebung gerecht 
werden. Man meinte, sie nur festhalten zu können, indem man die 
liberalen Ideen in populärem Sinne pflegte. Dabei aber ging man 
über den bisherigen Liberalismus weit hinaus; das allgemeine Stimm-
	        
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