Full text: [Abteilung 2 = (9. und 10. Schuljahr), [Schülerband]] (Abteilung 2 = (9. und 10. Schuljahr), [Schülerband])

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heit des Gefühls, dem gewaltsamen Unterdrücken der Gefühlsäußerung, der Abneigung 
gegen allzu starke Eindrücke, die viele Menschen, und zwar je tiefer sie geistig stehen, 
um so mehr, aufsuchen. Die Heiterkeit und Harmonie der Seele hat zur Voraussetzung 
eine sichere Lebensanschauung, eine feste Überzeugung und geklärte Ansichten in allen 
den Fragen, die tiefer angelegte Gemüter beschäftigen. Bei Frau Rat war dieser feste 
Anker für Geist und Seele das unerschütterliche Gottvertrauen und die felsenfeste Über— 
zeugung, daß alles, was geschieht, zum Besten der Menschen geschehe. Das war die 
Quelle ihres Glücks und ihrer Zufriedenheit. Sie war eine tief und religiös angelegte 
Natur; aber bei ihr setzte sich alles ins Tätige, Praktische um, ihr Glaube wurde zur Tat; 
die werktätige Liebe war ihr eigentliches Christentum. Nur in früher Jugend hatte 
fremder Einfluß, der ihrer mystisch angelegten Freundin von Klettenberg, ihre religiöse 
Anschauung etwas getrübt, so daß sie der frömmelnd-schwärmerischen Richtung der 
Herrnhuter in Frankfurt sich anschloß; aber die herrliche Entwickelung des Sohnes gab 
auch ihr einen höhern, weitern Gesichtskreis. Sie ließ das Ungesunde jener Richtung 
hinter sich und behielt allein den seligmachenden, kindlichen Glauben. Gegensätze und 
Widersprüche im Leben waren für diese glückliche Natur nicht vorhanden. Der Wille 
Gottes gab ihr stets die Lösung. Es hat etwas Rührendes und Beneidenswertes, zu 
sehen, wie diese Frau in größter Gefahr und Sorge ruhig und heiter zu Gott wie zu 
ihrem Vater aufschaut, der ja nur das Beste für sein Kind wollen kann. 
Neben dem lieben Gott war ihr niemand wichtiger, niemand lieber als der Sohn 
Wolfgang. Daß der Herzog von Mecklenburg und die Fürsten von Dessau erklären, 
es sei gar nicht zu verkennen, daß Goethe ihr Sohn wäre, freut sie am meisten von allen 
schmeichelhaften Urteilen. „Vornehmlich sang sie gern“, so erzählt die Schauspielerin 
Eunicke, „das Lied aus dem Faust: „Es war einmal ein König“, indem sie am Schlusse 
jeder Strophe die Zuhörer aufforderte mitzusingen und am Ende gewöhnlich, die rechte 
Hand auf die Brust legend, sagte: den habe ich geboren.“ 
Selbstverständlich ist ihr Wolfgang der erste Dichter und der erste Mann seiner 
Zeit. Wir werden es der mütterlichen Liebe verzeihen, daß ihr alles, was der Sohn 
schrieb, gleich groß und herrlich erscheint. Darum schickt auch der Sohn ihr zuerst seine 
neuesten Werke, oft schon im Manuskript. Besonders jubelt sie über „Hermann und 
Dorothea“ „als das Werk, worinnen eine Frau Aja vorkommen soll“, und über die ersten 
Bücher von Wilhelm Meister, die ihr die schönen Jahre der Kindheit Wolfgangs wieder 
vor Augen zaubern, und über den „Götz von Berlichingen“, bei dessen Aufführung in 
Frankfurt sie mit Stolz ihr Ebenbild auf der Bühne sah. Schon aus ihren vielen Zitaten 
aus Faust, Götz und Werthers Leiden u. a. ergibt sich, wie vertraut Frau Rat mit den 
Werken ihres Sohnes war. Denn nicht bloß Begeisterung brachte sie den Werken ihres 
Sohnes entgegen, sondern auch liebevolles Verständnis. Er hielt viel auf das Urteil 
der Mutter, er weihte sie ein in seinen Götz, in die Fehde mit Wieland, in die Pläne 
des Sturms und Dranges und sandte ihr allein die später verloren gegangene Antwort 
auf Friedrich des Großen Schrift „De la littörature allemande““. Ein Mann wie Wie— 
land sandte seine Dichtungen, bevor sie gedruckt wurden, mit der Bitte um ein Urteil 
„in Frau Ajas Manier.“ Sie war zwar keine Gelehrte, aber eine kluge Frau, mit hellem 
Verstande begabt. Was an ihrer Ausbildung versehen war, ersetzte sie durch eifrige 
Lektüre. Sie bildete sich an den Werken des Sohnes und machte seine Entwicklung mit 
durch. So kommt es, daß der Mangel an Schulbildung bei dieser glücklichen Frau zu 
großem Vorteil und zur Tugend wird. Sie hat sich eine beneidenswerte Natürlichkeit, 
eine naive Frische bis ins höchste Alter bewahrt, weiß auch nichts von der unheilvollen 
Scheidung der Sprache in eine Sprech- und Schreibsprache. Sie schreibt die Laute, 
wie sie sie hört, und geht mitten in der Erzählung in die direkte Rede über.
	        
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