§ 144. Das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm I. 1871—1888. 219
währte staatliche Schutz und politische Fragen (tote die zustimmende
Stellungnahme Deutschlands zur Einziehung des Kirchenstaates) waren
die Ausgangspunkte zu längeren MißHelligkeiten, welche sich alsbald aus
dem Gegensatz zwischen staatlichen und katbolnck-kircblichen Forderungen
ergaben und den Erlaß kirchenpolitischer Strafgesetze nach sich zogen.
Die durch Reichsgesetz erfolgende Ausweisung der Jesuiten (1872; und andere
Verordnungen hatten eine gesteigerte Opposition der katholischen Partei des Reichs-
tags sowie der katholischen Geistlichkeit zur Folge. Das führte zu verschärften
Gesetzen und staatlichen Eingrenzungen geistlicher Befugnisse („Maigesetze" von
1873). Doch beendigte der Gang der inneren Politik bald wieder diesen sogenannten
Kulturkampf. Unter Papst Leo XIII. (seit 1878) traten beiderseits erwünschte
Verständigungen ein.
6 Aas Sozialistengesetz 1878 und dessen Wiederanfßebung 185)0. Die
hastige Entwicklung, welche Handel, Industrie und Fabrikwesen in der neuesten Zeit
genommen, hat in den großen Städten ein außerordentliches Wachstum der arbei¬
tenden Bevölkerung mit sich gebracht und zugleich die zwischen den einzelnen Klassen
bestehende Kluft immer mehr erweitert. Das für die Reichstagswahl gewährte all¬
gemeine Stimmrecht begünstigte die Bildung einer politischen Arbeiterpartei. Durch
die sozialistischen Lehren von vermeintlichem Recht auf Gleichheit und auf Gemein-
fchaft des Besitzes aufgereizt, bekundeten manche ihrer Anhänger eine auflehnende
Haltung gegen die öffentlichen Ordnungen. Da sich fast gleichzeitig mehrere ruch-
lose Angriffe auf die höchsten Vertreter der Staatsgewalt ereigneten (Attentate auf
Bismarck und auf Kaiser Wilhelm), wurden gegen die Sozialdemokratie besondere
Gesetze zur Niederhaltung ihrer staatsfeindlichen Bewegungen erlassen (1878 , zunächst
auf beschränkte Dauer. — Diese „Ausnahmegesetze" wurden 1890 durch Reichstags-
beschluk wieder aufgehoben ibeziu. nicht wieder erneuert), nachdem inzwischen eine
auf materielle Besserstellung des Arbeitervolkes abzielende „Soziale Gesetzgebung"
angebahnt worden war.
7. Soziale chefehgebung. Um den sozialen Schäden zu begegnen
und die Arbeiterpartei mit dem Staatswesen auszusöhnen, nahm das
Reich nach dem Willen des Kaisers Jeit 1881_eine umfassende Gesetz¬
gebung in Angriff: kranke und verunglückte, ebenso altersschwache und
erwerbsunfähige Arbeiter sollten künftighin eine öffentliche Unterstützung
oder Rente beziehen, dafür aber in der Zeit ihrer Arbeitsfähigkeit zu
entsprechenden Einzahlungen verpflichtet sein (Krankheits- und Unfall¬
versicherung^ Jnvaliditäts- und Altersversicherung der Arbeiter).
Diese wohlthätige, seitens der Sozialdemokratie vielfach mit Undank auf¬
genommene Gesetzgebung wurde erst 1891 unter Kaiser Wilhelm II. vollendet.
8. Me Regentschaft in IZronnschweig. In Braunschweig war 1884 mit
Herzog Wilhelm die ältere Welfenlinie ausgestorben. Aus das Erbe erhob Herzog
Ernst August von Cumberland, der Sohn des letzten Königs von Hannover, als
Haupt der jüngeren Welfenlinie Ansprüche. Aber der Bundesrat erklärte dessen
Thronfolge für unvereinbar mit dem Frieden des Reiches, worauf der braunfchweigische
Landtag den Prinzen Albrecht von Preußen zum Regenten wählte (1885).