60
Leichenzug. Vier schwarz vermummte Pferde zogen einen ebenfalls
schwarz überzogenen Leichenwagen langsam und traurig, als ob sie
wüßten, daß sie einen Toten in seine Ruhe führten. Ein langer Zug
von Freunden und Bekannten des Verstorbenen folgte nach, Paar und
Paar, verhüllt in schwarze Mäntel und stumm. In der Ferne läutete
ein einsames Elöcklein. Jetzt ergriff unfern Fremdling ein wehmütiges
Gefühl, das an keinem guten Menschen vorübergeht, wenn er eine
Leiche sieht, und blieb mit dem Hute in den Händen stehen, bis alles
vorüber war. Doch machte er sich an den letzten vom Zuge, der eben
in der Stille ausrechnete, was er an seiner Baumwolle gewinnen könnte,
wenn der Zentner um zehn Gulden aufschlüge, ergriff ihn sachte am
Mantel und bat ihn treuherzig um Entschuldigung. ,,Das mutz wohl
auch ein guter Freund von Euch gewesen sein," sagte er, ,,dem das
Glöcklein läutet, datz Ihr so betrübt und nachdenklich mitgeht?"
,,K a n n i t v e r st a n", war die Antwort. Da fielen unserm guten
Tuttlinger ein paar grotze Tränen aus den Augen, und es ward ihm
auf einmal schwer und wieder leicht ums Herz. ,,Armer Kannitverstan,"
rief er aus, ,,was hast du nun von allem diesem Reichtum? Was ich einst
von meiner Armut auch bekomme: ein Totenkleid und ein Leintuch,
und von allen deinen schönen Blumen vielleicht einen Rosmarin auf die
kalte Brust oder eine Raute." Mit diesem Gedanken begleitete er die
Leiche, als wenn er dazu gehörte, bis ans Grab, sah den vermeinten
Herrn Kannitverstan hinabsenken in seine Ruhestätte und ward von der
holländischen Leichenpredigt, von der er kein Wort verstand, mehr
gerührt als von mancher deutschen, auf die er nicht achtgab. Endlich
ging er leichten Herzens mit den andern wieder fort, verzehrte in einer
Herberge, wo man Deutsch verstand, mit gutem Appetit ein Stück
Limburger Käse, und wenn es ihm wieder einmal schwer fallen wollte,
datz so viele Leute in der Welt so reich seien und er so arm, so
dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes
Haus, an sein reiches Schiff und an fein enges Grab.
41. Der Schatzgräber.
Johann Wolfgang von Goethe.
1. Arm am Beutel, krank am Herzen
Schleppt' ich meine langen Tage.
Armut ist die größte Plage,
Reichtum ist das höchste Gut!