Full text: Lesebuch für die 7. Klasse der Volksschulen in München (Klasse 7, [Schülerband])

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106. In den Straßen von Tokio 
Auf allen Seiten hört man Heulen und Donnern; man fühlt das Eis erzittern und 
hört es unter den Füßen brüllen; nirgends ist Friede. In dem Halbdunkel sieht 
man es zu immer näher und näher kommenden Ketten sich auftürmen; Schollen 
von drei, vier und fünf Meter Dicke bersten und werden übereinander geworfen, 
als ob sie federleicht wären. Sie sind jetzt ganz nahe und man eilt fort, um das 
Leben zu retten; aber plötzlich spaltet sich das Eis vor uns; ein schwarzer Abgrund 
öffnet sich aus dem das Wasser emporströmt. Man wendet sich nach einer andern 
Richtung; allein durch die Dunkelheit kann man eben noch sehen, daß ein neuer 
Wall von Eisblöcken sich heranbewegt. Man versucht eine dritte Richtung; aber 
dort ist es ebenso. Rundherum Donner und Brüllen wie von einem ungeheuren 
Wasserfall, vermischt mit dem Krachen von Geschützsalven. Immer näher kommt 
es heran. Die Scholle, auf der man steht, wird kleiner und kleiner; Wasser strömt 
darüber hinweg. Es gibt kein Entkommen, als indem man über die rollenden Eis— 
blöcke klettert, um auf die andere Seite des Packeises zu gelangen. Aber der Auf 
ruhr legt sich; das Getöse verhallt und verliert sich allmählich in der Ferne. 
106. In den Straßen von Tokio. 
Dr. Emil Selenka. 
Der erste Anblick, welchen uns das japanische Inselland vom Bord 
des norddeutschen Lloyddampfers „Nürnberg“ darbot, war ein vielver— 
heißender: aus grünenden Gebirgsketten tauchte der alles überragende 
Prachtvulkan „Fuji“ empor, das Wahrzeichen des Inselreiches, der „hei— 
lige“ Berg, das Reiseziel unzähliger Wallfahrer. Kaum waren in der 
Bai des schmucken Städtchens Yokohama — „Querstrand“ — dem be— 
deutendsten Hafenorte Japans, die Ankerketten unseres eisernen Schiffs— 
kolosses rasselnd gefallen, als ein Schwarm von Ruderbooten herbei— 
schoß, geführt von untersetzten Schiffern, die trotz der frischen Brise nur 
mit einem Lendentuche, einem um die Stirn gewickelten Handtuch und 
mit einer kurzen blauen Jacke bekleidet waren. Wir bedurften ihrer 
Dienste, um unser Gepäck an den Landungsplatz zu schaffen, wo dasselbe 
einer fleißigen Durchsicht unterworfen wurde, und erreichten nach einer 
Stunde Eisenbahnfahrt die neue Hauptstadt Tokio, das frühere Nedo. 
Nach einem im Gasthofe genommenen Bade rüsteten wir uns zu 
einer Fahrt durch die Stadt. Einsitzige, zierliche, zweiräderige Wägelchen 
wurden vorgeführt. Wir stiegen ein. Zwischen die Gabeldeichsel trat 
ein Wagenzieher und fort ging es in raschem Trabe. — Die Riesen— 
stadt Nedo, das „Wassertor“, nun Tokio oder Osthauptstadt genannt, 
ist durch allmähliches Verschmelzen von mehr als hundert kleinen Ort— 
schaften entstanden, die sich im Laufe der Jahrhunderte um die Festung 
des Herrschers gruppierten. Sie umspannt ein ausgedehntes Gebiet, 
welches reich ist an Abwechslung und malerischer Schönheit. Hügel, 
Flüsse und Kanäle durchziehen ausgedehnte Rasenplätze; große Park—
	        
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