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Mit den Jahren wurde ihre Gestalt beleibter, und es zeigten sich von Zeit zu
Zeit beunruhigende Symptome eines Herzleidens. Wirkte dieser Zustand hemmend auf
chre Schaffenskraft, so blieb sie gleichwohl immer in heiterer Stimmung und behielt eine
lebendige Teilnahme für alles, was um sie her vorging. Sie besaß ein unendlich wohl¬
wollendes Gemüt, und wenn irgendwo ein Kummer zu lindern war, da fehlte ihr Bei¬
stand selten. Hier half sie einem armen Studenten sein Fortkommen sichern, dort hörte
sie die Klage eines armen Taglöhners an, dein die Kuh verunglückt und dem sie zu
einer neuen verhalf. Jüngeren Freunden war sie zeitlebens eine mütterliche Beraterin,
liberall emsig mit der That bereit; den bevorzugten unter ihren Freundinnen hat sie in
ihren Gedichten sinnige Denkmale gesetzt. Ihre Briefe waren so eigentümlich wie ihre
Gedichte; sie hatte die seltsamste Handschrift, überaus zierlich und überaus winzig.
_ Berühmt war ihr wunderbares Erzählertalent, wofür ihr alle Dialekte, dazu ein
Schatz von Sagen und ergötzlichen Zügen aus dem Volksleben zu Gebot standen, und
wenn vertraute Besuche auf Rüschhaus eintrafen, die immer einen dankbaren Willkomm
fanden, so erfreute die Dichterin sie gewöhnlich mit ihren besten Geschichten launiger und
phantastischer Art. Dieses Erzählertalent war so populär geworden, daß es die Kinder
des Dorfes sogar sich zu nutze machten. In den Nachmittagsstunden wagten sich wohl
dann und wann etliche dreiste Flachsköpfe unter ihr Fenster und riesen herzhaft: „Frölen,
verteilen!" Das Fräulein ging gutmütig darauf ein und trug von ihrem Fenster
herab dem kleinen Auditorium die besten Märchen und moralischen Kindergeschichten in
vollkommenem westfälischen Plattdeutsch vor.
In dieser Zeit entstand ein namhafter Teil jener religiösen Gedichte, welche nach
dem Tode der Dichterin, als ein eigener Lieder-Cyklus unter dem Sammeltitel „Das
geistliche Jahr" an die Öffentlichkeit kamen. Tiefe Religiosität war die Grundlage ihrer
ganzen Denk- und Handlungsweise, und diese Gedichte sind ans einem glühenden
Glaubensgefühle herausgeschöpft. Die hinreißende Innigkeit des gläubigen Vertrauens,
der erhabene Schwung ihrer Phantasie, die farbenprächtige Klarheit der biblischen Bilder,
der erschütternde Ernst ihrer prophetischen Mahnstimme lassen den Umfang dieser seltenen
poetischen Schöpferkraft und die Glut einer glaubensbedürftigen, das Kreuz umklammernden
Seele ermessen. Die katholische Kirche ist damit um einen köstlichen Schatz geistlicher
Lieder bereichert worden.
Die letzten Jahre ihres Lebens brachte Annette von Droste meist aus dem Schlosse
von Meersburg am Bodensee zu. Dort auf der altertümlichen Burg, deren Hauptturm
von der Sage noch als ein Werk Dagoberts I. bezeichnet wird, hatte sich der Schwager
der Dichterin, der berühmte Freiherr Joseph von Laßberg, angesiedelt und die verödeten
Räume mit den Schützen kostbarer mittelalterlicher Pergamenthandschriften und In¬
kunabeln 1 ausgefüllt. Schloß Meersburg war die Dichter- und Gelehrtenherberge jener
Tage. Hierher also zog Annette von Droste, um ihre wankende Gesundheit durch die
frische Alpenluft zu stärken, und der Aufenthalt bekam ihr immer wohl. Sie pflegte
auch dort, woselbst sie ein rundes Turmzimmer bewohnte, dieselbe ruhige Zurückgezogen¬
heit tvie in der westfälischen Heimat und ließ sich nur durch besonders willkommene
Besuche herauslocken, wenn Männer wie Görres, Uhland, Justinus Kerner u. a. Ein¬
kehr nahmen. Sie fühlte sich wieder mächtiger zum poetischen Schaffen angeregt und
schrieb an den Ufern des Schwäbischen Meeres eine gute Anzahl ihrer schönsten Ge¬
dichte. Das beträchtliche Honorar, welches sie für die Herausgabe derselben von der
Cottaschen Buchhandlung erhielt, verwendete sie zum Ankauf eines kleinen, in der Nähe
von Meersburg gelegenen Weingartens, der die Aussicht über den See und auf die
Alpen bot. Nach diesem kleinen Eigen waren ihre täglichen, ärztlich gebotenen Spazier¬
gänge gerichtet, und mit aufmerksamer Freude folgte sie dem Wachstum und Gedeihen
ihrer Reben.
Im Sommer 1847 hatte sie noch einmal Westfalen besucht, zum letztenmal. Als
sie im Herbste aus der Heimat wieder nach Meersburg zurückkam, war ihr Zustand be¬
denklich geworden; ihr Atem wurde beklommener, und im Frühling 1848, den 24. Mai,
setzte ein Herzschlag ihrem Leben ein schnelles Ende. Sie hatte wohl einst gewünscht, in
der geliebten Heimat zu sterben und zu ruhen; aber auch der schwäbische Aufenthalt war
' Druckschriften aus den ersten 50 Jahren nach Erfindung der Buchdruckerkunst.