Full text: Die vorchristliche Kulturwelt (Hauptteil 1)

VIII Kulturgeschichtliche Grundbegriffe. 
Da er sich solche Kräfte nicht als unpersönlich vorstellen kann, betrachtet er sie 
als Ausfluß oder Betätigung einer Persönlichkeit. Dieselbe nennt er dann Gott 
heit. So entsteht der Polytheismus (Vielgötterei). Diesen Gottheiten gibt der 
Mensch in seiner Phantasie die vollkommenste Gestalt, die er kennt und sich vor 
stellen kann, nämlich seine eigene, nur in idealisierter Form. Haben die Götter- 
menschliche Gestalt, so bekommen sie auch menschliche Eigenschaften, jedoch in 
einem das Menschliche übersteigenden Maße. Damit erhalten sie neben Tugenden 
und Vorzügen auch Fehler und Irrtümer, wie toir das an den griechischen und 
altgermanischen Göttern sehen. Aus Fehlern und Irrtümern entstehen Unrecht 
und Vergehen, wofür die Götter dann bestraft werden. Diese Strafe vollziehen 
sie entweder an sich gegenseitig (Götterdämmerung), oder sie unterliegen einem 
über ihnen stehenden unerbittlichen und unabwendbaren „Schicksal" (moira, fatum, 
Nornen). Letzterer Gedanke deutet schon auf eine höhere geistige Stufe. Selbst 
die Verehrung abgestorbener Vorfahren (Ahnenkult) spielt auf der Unterstufe 
der Religion eine Rolle. In der Religion der hochentwickelten Kulturvölker 
erscheint die Gottheit als ein reiner erhabener Geist (Monotheismus), ausge¬ 
stattet mit allen Tugenden und Vorzügen, frei von jeglichen Fehlern und jeglicher 
Vergänglichkeit, ewig und allmächtig, der die Welt erschaffen hat und regiert und 
die Menschen für all ihr Tun und Lassen verantwortlich macht. In letzterem 
Punkte liegt vorzugsweise die erzieherisch-sittliche Bedeutung der Religion. 
Die wichtigsten Religionen der Kulturvölker sind: 1. das Christentum, von 
den Mittelmeerländern aus über fast ganz Europa und von da über die ganze 
Erde verbreitet. Es hat sich frühzeitig gespalten in eine römisch-katholische Kirche, 
die in dem Papst in Rom ihr Haupt und ihren geistigen Mittelpunkt verehrt, 
und in eine griechisch-orientalische, die hauptsächlich in Osteuropa und in den 
angrenzenden Gebieten vorherrschend ist. Von der römisch-katholischen Kirche hat 
sich im 16. Jahrh. die protestantische oder evangelische Kirche abgezweigt (Luther), 
neben der die sog. reformierte entstand (Zwingli, Calvin). Das Christentum ist 
hervorgegangen aus dem 2. Mosaismus, Religion der Judeu, die fast unter allen 
Kulturvölkern zerstreut leben. Im 7. Jahrh. entwickelte sich in Arabien der 
3. Islam, die Religion der Mohammedaner, welche die meisten semitischen Völker 
in Nordafrika und Vorderasien, außerdem viele mongolische in Inner- und Süd- 
ostasien umfaßt. Auch in Europa lebt ein kleiner Teil (Türken). Eine weitver¬ 
zweigte Religion ist ferner 4. der aus dem Brahmanentum hervorgegangene 
Buddhismus, welcher sich von Indien aus über große Gebiete Mittel- und Cft- 
asieus ausdehnte und in äußeren Zeremonien und Gebräuchen einzelne Ähnlich¬ 
keiten mit oer römisch-katholischen Kirche aufweist. — In jeder Religion gibt 
es noch verschiedene Sekten (kleinere Gemeinschaften), die in manchen Punkten 
von der Lehre und den Gebräuchen der betreffenden Religionen abweichen. 
Die zahllosen religiösen Vorstellungen niederer Naturvölker haben für die Kultur 
keine Bedeutung. 
III. Soziale Verhältnisse. 
Es ist bereits betont worden, daß die Voraussetzungen für jede höhere Kultur, 
Arbeitsteilung und Bevölkerungsdichte ein geordnetes Zusammenleben mehrerer 
Menschen neben- und nacheinander bedingen. Deshalb nannten schon die alten
	        
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