Object: Neueste Geschichte seit 1815 bis zur Gegenwart (Teil 4)

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12. Das wirtschaftliche Keden des deutschen Malkes. 
Auf das wirtschaftliche Leben des deutschen Volkes seit 1850 haben 
zwei Lehren besonders eingewirkt: der Individualismus und der 
Sozialismus. 
1. Der Individualismus. Der Individualismus ist die Volkswirt- 
schaftliche Lehre, die von dem Engländer Adam Smith (1723—1790) 
wissenschaftlich ausgebildet worden ist. Ihr Hauptsatz lautet: „Der Wohl- 
stand des Volkes gedeiht am besten, wenn jeder Einzelne im freien 
Wettbewerb mit den andern seine Kräfte und Mittel ungehindert ge- 
brauchen kann, um sein Vermögen zu vermehren." Denn der Eigennutz 
und der auf ihm beruhende freie Wettbewerb treibt jeden, sich die Arbeit 
zu suchen, in der er das Meiste leistet, und so bringt das ganze Volk 
möglichst viele und gute Güter hervor. Dabei regelt sich der Ausgleich 
zwischen Arbeit und Lohn in gerechter Weise von selbst, ebenso der Preis 
der Waren, und so wird jedem Teilnehmer an der Gütererzeugung (dem 
Arbeitgeber wie dem Arbeiter) der ihm gebührende Gewinnanteil zugeführt. 
Dieser Anteil muß für den Arbeitgeber größer sein, denn er arbeitet vor- 
wiegend geistig und mit seinem Kapital. Aus diesem allen folgt der zweite 
Satz: „Der Staat hat sich in diese wirtschaftlichen Arbeiten nicht ein- 
zumischen, er soll sie ungehindert „gehen lassen" (laisser faire); er hat 
nur alle Hemmnisse und Schranken zu beseitigen, die den Einzelnen an 
der Arbeit und am Reicherwerden hindern; er hat vor allem die Person 
und das Eigentum des Einzelnen zu schützen." — Aus den Handel an- 
gewandt darf der Staat keine Schutzzölle einführen, denn sie vermindern 
den Verdienst des Händlers; unbeschränkter Fr ei Handel ist also die Losung. 
In der Großindustrie darf sich der Staat nicht in das Verhältnis zwischen 
Fabrikherrn und Arbeiter mengen (wie es jetzt mit den Fabrikgesetzen und 
Arbeiterschutzgesetzen geschehen ist). — Der freie Wettbewerb soll nicht nur 
zwischen den einzelnen Menschen, sondern auch zwischen den Völkern 
herrschen. 
Diese Lehre hat zunächst etwas Bestechendes, da sie die Freiheit 
fordert und predigt. Aber ihre Verwirklichung im Leben nützte haupt¬ 
sächlich den Besitzenden; gegen den armen Arbeiter wurde sie leicht grau¬ 
sam und hart. Der Staat schützte zwar auch ihn gegen Mörder und 
Diebe; doch gegen Krankheit, Unfälle, Arbeitsunfähigkeit und Altersschwäche 
konnte er ihn nicht schützen. Den Besitzenden brachten solche Hindernisse 
noch nicht in Not, wohl aber den Arbeiter, der nichts ersparen konnte. 
Für ihn hatte der Individualismus dann nur das kaltherzige: „Hilf dir
	        
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