150 Das Küstenland, die Mündung der Ems und der Dollart.
von der wir etwas Genaueres wissen, ist die des Jahres 1012, die zugleich,
wie der alte Reimchronist Renner berichtet, zur Errichtung der ersten Deiche
an der Weser Anlaß gab. Er singt:
„De Elve un de Wasserfloth
Sind düsser Tied geworden grot
lln Hebben Velen Schaden dahn,
Darob is man tho Rade gahn,
Den Wesserdiek to maken u. s. w."
Hernach sagt er davon: „De Elve un de Messer branden in Norden dree
Dage lang. Se wurden baben de Mate grot und lepen awer. Do bat Water
wedder Wegfell, wurden vele dode Lüde sunden, darvon quam ene arote
Pestilenzie."
Von einer im Jahre 1144 hereinbrechenden Flut melden der Mönch
Godefried und der friesische Historiker Ubbo Emmius, daß sie fast 12 Meilen
weit ins Land eindrang, während 1164, wie der Chronist Heimreich berichtet,
eine Flut ganz Nordfriesland verwüstete. Im Kirchspiel Brunsbüttel kamen
bei derselben fast alle Menschen ums Leben. Ein Opfer von 10 000 Menschen
kostete Nordfriesland allein eine weitere Flut im Jahre 1216. Eine gleiche
Zahl verloren bei der drei Jahre später stattgehabten „Marcellusflut" ihr Leben.
.In den Fluten des 12. und 13. Jahrhunderts entstand der Jahdebnfen;
der Dollart verdankt seine Entstehung der „Ersten Weihnachtsflut" (1277),
welcher 30 Dörfer zum Opfer fielen.
Eine große, namentlich für Ostfriesland verderbliche Flut war am 14. De-
zember 1237. Im Jahre 1300 trat die „Zweite Marcellusflut" eiu; 7600
Menschen ertranken nnd halb Helgoland wurde fortgerissen. 62 Jahre später
brauste wieder eine Flnt ins Land, die „Große Mannestränke", wie sie in
Chroniken genannt wird, und verschlang 30 Kirchspiele mit ihren Bewohnern.
Im Jahre 1373 kam die „Dionysiusflut". Im 15. Jahrhundert waren fünf
Fluten, darunter 1412 die „Cäcilienflut", welche 3600, und 1421 eine andre,
die 10 000 Menschen kostete.
In den Stürmen der Jahre 1509 und 1511, wo die „Antoniflnt" ein-
brach, bekam die Jahde ihre heutige Gestalt, und die drei Dörfer Seediek,
Dowens nnd Oberahn wurden ein Raub der Wogen. An das letztgenannte
Dorf erinnern die im Meerbusen liegenden „Oberahnischen Felder", kleine
grüne Juselu, welche teils beweidet, teils gemäht werden und der stille Brütort
einer Menge von Sumpf- und Seevögeln sind.
Von allen früheren und späteren Fluten ragt indes keine mit so furcht-
barer Großartigkeit hervor als die im Jahre 1570, urplötzlich mitten in
dunkler, stürmischer Nacht einbrechende „Allerheiligenflut". Namenlos war
das Elends das sie brachte. Von Holland bis Jütland wurde alles in wenigen
Stunden eine einzige wilde Wasserwüste: kein Deich widerstand, kein Dorf blieb
verschont, keine Wurt blieb trocken, und man nahm an, daß in ihren Wogen
mehr als 100 000 Menschen ihr Grab gefunden hätten. Vom Butjadinger-
lande weiß man, daß allein hier über 4000 Menschen ertranken. Noch lange
nachher lag eine Menge Land unbenutzt und verwildert, weil die Hände fehlten,
es zu bebauen, und im nämlichen Jahrhundert ging noch dreimal das gierige
Meer übers Land.