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vor uns. Es besteht wie Landro nur aus wenigen Häusern, die mit Aus¬
nahme des Zollgebäudes alle zu dem Hotel gehören. Der Monte Cristallo
ist unserem Blicke entzogen. Dafür bietet sich ihm ein anderer Riese.
Aus inüchtigem Fußgestell baut sich über dichten Wäldern und ungeheuren
Schutthalden die schroffe, von dieser Seite unnahbare Rotwand auf,
die Oroäu ro88a der Ampezzaner (3148 in), die ihren Namen einer
auffallenden Färbung ihres Gesteines verdankt. Es ist ein herrlicher
Berg, diese rote Wand, ein würdiger Ersatz für den Monte Cristallo.
Und damit auch die Drei Zinnen ihren Ersatz finden, öffnet sich — wie
bei Landro das Rienzthal — hier bei Schluderbach das Val Popen a,
und über den Einschnitt blickt, umrahmt von den bewaldeten Hängen des
Cristallin (westlich) und des Monte Piano (östlich) die zerklüftete Felsen-
welt der Cadinen, ein Gesamtbild, das dem bei Landro kaum nachsteht.
Nun müssen wir die Ampezzaner Straße verlassen. Im waldigen
Val Pope na führt die „Erzstraße" in südöstlicher Richtung gegen die
Hochfläche von Misurina hinauf. Bei der Brücke über den Pvpeuabach
überschreiten wir — ein Viertelstündchen von Schluderbach — die Grenze
zwischen Tirol und Italien, dann geht es scharf bergan unter den Ab¬
hängen des breiten Monte Piano. Es ist ein prachtvoller Weg. In
knapp zwei Stunden gelangen wir angesichts der immer schöner sich ent¬
wickelnden Landschaft zum Misurinasee (1755 in), einem prächtig
klaren, hellgrünen Wasserbecken inmitten einer bewaldeten, mit Hügeln
bedeckten Hochfläche und umgeben von einem Kranze der herrlichsten
Dolomitberge. Wohin wir blicken, überall die prachtvollsten Bilder! Im
Norden zeigt sich über den wellenförmigen bewaldeten Höhen der zerklüftete
Schwalbenkofel, rechts davon sind die mächtigen Gestalten der Drei
Zinnen, von denen die Kleine Zinne beinahe ganz verdeckt ist: im Osten
ist das Zackeugewirre der Cadinen, im Westen der Piz Popeua mit
seinen Ausläufern und im Süden, durch ein tiefes Thal von uns getrennt,
der mächtige Sorapiß, eine ausgedehnte, senkrecht abfallende Felswand
von ungeheurer Großartigkeit (3229 m). Über dem allen lacht der tief¬
blaue italienische Himmel und giebt ihm eine unerreichte Farbenpracht.
Endlich besteigen wir ein Boot, und — wir haben uns nicht getäuscht,
während der Fahrt auf dem schönen Spiegel zeigt sich uns die Pracht
der gewaltigen Landschaft in immer neuem Wechsel.
Nachdem wir uns ein wenig erholt haben, wandern wir den schon
genannten Cadinen zu, einer Anzahl von Kesseln, die über dem Plateau
von Misurina liegen, umrahmt von einer Masse gewaltiger Felszackeu
und verbunden miteinander durch zahlreiche Scharten. Wie abgeschlossene