Full text: Theorie und Praxis der Heimatkunde

48 
eine weite Reise vor mir. Von Zwickau aus wandere ich über Lichten¬ 
stein nach Chemnitz, in die Stadt der tausend Essen. Hier begegne ich 
meiner Schwester, die auch so alt ist wie ich, aber noch viel weiter zu 
reisen hat. Sie hat mir einmal erzählt, daß sie von der wilden Nordsee 
her komme und in das schöne, sonnige Italien wandere. Ich wende mich 
nun der alten Silberstadt Freiberg zu. Doch in dem Rauch der Hütten 
und Schächte gefällt mir's dort nicht lange. Bald trete ich in den 
Plauenschen Grund mit seinen frischen, grünen Laubwäldern ein. Es 
dauert nicht allzulange, da bekomme ich das Schönste meiner Reise zu 
sehen, die prächtige Residenzstadt Dresden. Wenn ich mir den breiten 
Elbstrom, die herrlichen Gebäude, die großen, herrlichen Anlagen und die 
feingeputzten Menschen angeschaut habe, nehme ich Abschied und wandere 
an harzreichen Kiefernwäldern vorüber in die lieblichen Gefilde der Lausitz. 
Dann verlasse ich die Marken deines Vaterlandes." 
II. 
„So habe ich auf meiner Wanderschaft dein ganzes, schönes Heimat¬ 
land gesehen. Aber wie ist es doch so anders geworden seit meinen 
Jugendtagen! Zu jener Zeit waren die Berge und Ebenen noch mit 
einem tiefen, undurchdringlichen Walde bedeckt. Um mich rauschten fürst¬ 
liche Tannen und hochragende Fichten. Sage an, lieber Wanderer, wo 
sind sie hin? Nur oben, am Abhange des Windberges, hat sich noch 
ein Rest der alten Waldherrlichkeit erhalten. Damals herrschte tiefste 
Stille um mich her. Manchmal huschte das scheue Reh oder der gierige 
Wolf durch das dichte Gestämme der Bäume. — Da dröhnten eines 
Morgens laute Schläge durch die Stille des Hochwaldes. Hunderte von 
geschäftigen Wesen brachten mit scharfen Äxten und Sägen die alten 
Baumriesen zu Fall. Bald war ein breiter Waldpfad entstanden. — 
Menschen waren es, die das getan hatten, Menschen mit kräftigen 
Muskeln und tiefschwarzen Haaren. Dort, wo jetzt Zwickau steht, hatten 
sie sich ein kleines Dorf angelegt. Aus ihren niedrigen Lehmhütten 
brachten sie zu manchen Zeiten große Leinwandrollen und andere Web¬ 
waren, die durch ihren Hausfleiß entstanden waren. Diese luden sie auf 
ihre unbeholfenen, hölzernen Wagen und fuhren damit in das obere 
Vogtland und nach Bayern. Wenn aber in den Herbsttagen endloser 
Regen auf den Weg niederrauschte, da blieben sie wohl auch manchmal 
mit ihren Wagen in dem sumpfigen Waldpfade stecken. Doch die Menschen 
sind klug und wissen sich zu helfen. Aus den riesigen Baumstämmen, 
die sie gefällt hatten, fertigten sie sich breite Holzknüppel und legten sie 
auf die Waldstraße, damit sie immer fahrbar bleiben sollte. 
Hunderte von Jahren vergingen. Da trat plötzlich eine Änderung 
der Dinge ein. Eines Tages hörte ich in der Ferne Pferdegetrappel. 
Näher und näher kam der Lärm. Reiter mit blanken Rüstungen und 
blitzenden Schwertern kamen herangesprengt. Ihre blonden Haare flatterten
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.