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Sohn, da unten im Felsengrunde steht ein schöner Hirsch. Wenn du heute
ungünstige Jagd gehabt hast, hilft dir der wohl wieder zu deinein Schaden."
Ich bin der Meinung, er wollte mich mit einem Zauberblendwerk zum Besten
haben, eile dahin, um ihm zu zeigen, daß sich ein Sachse nienials fürchtet.
Aber der Hirsch steht wirklich da; ich erlege ihn, und als ich mit der Beute
zurückkomme, sinde ich den Priester blutend in das Gras gesuuken. Doch freund-
lich mich anlächelnd, spricht er: „Siehst du, mein Sohn? Nun hast du ja doch
einen guten Fang gethan; das freut mich sehr." Diese Worte brachen mir das
Herz, ich fühlte mein Unrecht, trug den frommen Mann in meine Hütte, heilte
ihm den Arm und er mir die Seele, und als ich einige Jahre daraus meine Frau
heiratete, half ich ihr auf den rechten Weg. Die Kinder haben wir denn
natürlich iu der Furcht und Liebe unseres teuern Heilandes auferzogen. Nun
richtet über mich! Ich aber bitte Gott, daß er euch auch zu seiner Gnade helse
durch Jesum Christum." — Wittekind, der nachdenklich zugehört hatte, stand
auf, reichte der Hausfrau und den beiden Kindern die Hand und sprach: „Lebet
in Frieden!" Zu Berthuls aber wendete er sich mit den Worten: „An deinem
Glauben muß etwas Wahres sein, aber wir haben keine Zeit darüber nachzu-
sinnen. Wir eilen nach meiner Burg Babylonie; des Rastens ist genug, führe
uns durch den Wald auf Wegen, die kein Franke weiß!" Berthulf sprach: „Von
Herzen gern!" und sie machten sich auf. Durch das Dickicht des Waldes ging
es am Gebirge in die Höhe, bis sie aus dem Kamme waren. „Nun kehre heim,
du treuer Führer!" sagte Wittekind, „wir sind jetzt geborgen, die Babylonie ist
nicht mehr weit. Nimm unsern besten Dank!" Berthuls nahm Abschied und
verschwand im Gebüsche.
In Wittekinds Seele war der Stachel des Zweifels an der Echtheit
seiner Religion gedrückt worden, und er vermochte nicht, ihn zu beschwichtigen.
Als nun im Winter eine Waffenruhe eingetreten war, ergriff ihn eine Wunder-
bare Sehnsucht zu schauen, wie die Christen ihren vielgepriesenen Gott verehren.
Das Weihnachtsfest kam heran, da hüllte sich Wittekind in Bettlerlumpen und
schlich sich beim Hereinbrechen des Morgenrotes in das fränkische Lager. Un-
erkannt schritt er durch die Reihen der Krieger, die sich zum Gottesdienste an-
schickten, und gesellte sich zu den Krüppeln, welche am Eingange des Heilig-
tums harrten, daß man ihnen ein Almosen darreichte. Denn hier, meinte der
hohe Bettler, könne er am unbemerktesten den gepriesenen Karl schauen, wenn
er in der Mitte seiner Helden und Gewaltigen aus dem Gotteshause trete.
Hart an die Pforte gelehnt, bog er fich hinüber und blickte hinein in die ge-
weihte Wohnung. Da wurden nicht Pferde und Rinder geopfert wie bei den
Heiden, sondern andächtig knieete Karl mit allen seinen Großen vor dem Altare,
das Sakrament zu empfangen. Weihrauchduft wallte empor, und die Gesänge
der Priester priesen die heilige Nacht, wo die Herrlichkeit des Heilandes sich
den Menschen offenbarte. Da wurde Wittekind tief ergriffen von der Pracht
und Gewalt des Gottesdienstes der Christen, und stumm faltete er die Hände.
Es war, als ob das Christuskind ihm lächelnd vom Altare her winkte und
spräche: „Komm her zu mir!" Hier, sagt man, kam ihm zuerst der Entschluß
ein Christ zu werden. Als nun Karl hinaustrat und mit funkelnden Augen
die Reihen der Bettler und Krüppel durchlief, verweilte sein Blick auf der hohen