1. Die Errichtung des Deutschen Reichs durch Kaiser Wilhelm den Großen. 313
angeblichen Zweck des Krieges, Befreiung der russischen Stammes- und
Glaubensgenossen von türkischer Herrschaft, erreicht, aber nicht den eigentlichen
Zweck: die ausschlaggebende Stellung an: Bosporus. Die Schuld dieses Mi߬
erfolges schob es Deutschland zu und näherte sich Frankreich; das Deutsche
Reich mußte also fürchten, seine Waffen gleichzeitig gegen Osten und Westen
kehren zu müssen. Deshalb vermittelte Fürst Bismarck 1879 mit Österreich ein
Schutzbündnis gegen Rußland. Kaiser Wilhelm fiel es schwer, gegen seinen
Neffen sich wappnen zu müssen; als dieser daher (1881) durch Meuchelmord
fiel, versuchte er, deu jungen Kaiser Alexander III. (f 1894) zu einem
neuen Dreikaiserbündnis zu bewegeu, aber vergebens. Schon glaubten die
Franzosen, die so lange ersehnte Reiche an Deutschland endlich ausführen zu
können, und rüsteten in fieberhafter Aufregung. Doch mich die deutsche Reichs-
regieruug war nicht müßig; sie hatte schon 1883 durch die Ausnahme Italiens
den bisherigen Zweibund in einen Dreibund erweitert.
Aber der Kaiser wollte die Sicherheit Deutschlands nicht von der Trene
oder Stärke der Bundesgenossen abhängig machen, sondern jedem Gegner
durch die eigene Kriegsmacht gewachsen sein und suchte deshalb diese nach
Kräften zu verstärken. Bei der Beratung der Vorlage im Reichstage zeigte
Bismarck, wie oft der Kaiser schon den Krieg vermieden habe, daß Deutsch¬
land sein Heer nur zum Schutze des Friedens verstärken wolle, nicht aus
Furcht; deuu, so rief er nuferen kriegslustigen Nachbarn zu: „Wir Deutsche
sürchteu Gott, aber sonst nichts in der Welt." Die Vorlage wurde
mit erdrückender Mehrheit bewilligt, und die Feiude im Osten und Westen
legten die bereits erhobenen Waffen wieder nieder. Mit größter Gewissen¬
haftigkeit überwachte die deutsche Militärverwaltung auch die Einübung und
Ausrüstung des Heeres; selbst der neunzigjährige Kaiser besuchte noch die
Manöver. Auch die Kriegsflotte erfreute sich der gleichen Fürsorge; Kiel
und Wilhelmshaven wurden zu Reichskriegshäfen erhoben, die Zahl der
Schiffe von Jahr zu Jahr vermehrt. Beim Tode des Kaisers zählte sie
außer der Torpedoslottille etwa siebzig Kriegsschiffe mit einer sehr see¬
tüchtigen Bemannung. Sie hat die Aufgabe, die heimischen Küsten und den
deutschen Handel im Auslande zu schützen. Das ist in nachdrücklicher Weise
geschehen, so daß der deutsche Kaufmann nicht mehr jeder Willkür der Fremden
ausgesetzt ist. 1872 nahm Kapitän Batsch der Republik Haiti zwei Schiffe
weg, weil ein deutscher Kaufmann dort nicht zu feinem Rechte kommen konnte;
1873 schützte Werner die Deutschen in Spanien während eines Aufruhrs;
1878 bestrafte Wickede die Republik Nicaragua, weil der deutsche Konsul dort
unwürdig behandelt worden war. Mit gleichem Nachdruck und Erfolge sind
später deutsche Kapitäne in Liberia, Samoa, Chile, Brasilien, China und
Marokko aufgetreten. Nun endlich konnte man auch den Gedanken des
Großen Kurfürsten wieder aufnehmen, überseeische Kolonien zu gründen,
um dem Fleiße und dem Thatendrange unseres Volkes neue Arbeitsfelder zu
eröffnen. Seit 1882 wurden in Südwestafrika, ferner nicht weit von der
ersten preußischen Kolonie (S. 69), in Togo sowie am Kamerunstuß deutsche
Kolonien angelegt. Nicht lange danach stellte das Reich noch andere
Gebiete unter seinen Schutz, wo deutsche Kaufleute bereits Land erworben