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Giebeln, an den vortretenden Erkern und Ecktürmchen, die, nach dem
Familienzimmer offen, als gemütliche Arbeits- und Plauderwinkel dienen,
nach außen aber durch ihre zierliche Gestalt, ihre Spitzdächer und Ge-
simse zur heiteren Belebung der Straßen beitragen. Hier ist denn auch
außen die reichste Steinmetzarbeit angebracht, innen kostbares Getäfel und
Schnitzwerk, bemalt und vergoldet und mit bedeutsamen Versen und
Sprüchen geziert, und solch ein Erker erscheint dann am Hause, wie der
Chor au der Kirche, als das schmuckreichste Heiligtum.
Am frühesten aber entwickelte sich die Pracht der Baukunst an den
öffentlichen Gebäuden, Kirchen, Rathäusern, Münz-, Zoll- und Waren-
Häusern, welche das mittelalterliche Bürgertum gleich den Griechen und
Römern in großem Stil mit Aufbietung alles architektonischen Aufwandes
erbaute. Je mehr sich der Wohlstand und das Behagen der Städte
im vierzehnten Jahrhundert steigerte, desto mehr wetteiferten sie, mit
Stolz zu zeigen, was Geld und Arbeit vermöge. Es bildeten sich eng-
geschlossene Verbindungen der Baugewerkleute, namentlich der Maurer
und Steinmetzen, die sogenannten Bauhütten, die allmählich zu förmlichen
Schulen der Baukunst wurden. Ihre Lehre war eine geheime, außer den
Mitgliedern durfte niemand die Hütte betreten. Aber aus dem uuglaub-
licheu Wetteifer und dem uneigennützigen Zusammenwirken der verschiedenen
Baugewerke ging die Vollendung der gotischen Baukunst hervor. Jede
größere Stadt wollte ihren Dom haben. Da schien die schwere Masse
leicht und frei emporzusteigen; da wuchsen die Pfeiler wie Bäume hervor
und schlössen sich oben in spitzen Bögen ab, über dem Dache aber
wurden sie durch spitze, in die Wolken ragende Türme fortgesetzt; die
Fenster waren von ungeheurer Größe, aber das hereinfallende Licht war
gemildert durch künstlerische Glasgemälde; die Erhabenheit des Ganzen
endlich barg sich in die reichsten und lieblichsten Verzierungen der Stein-
hauerarbeit, so daß die Masse sich aus unermeßlich viele», gleichsam
lebendigen Steingewächsen aufzubauen schien. Es waren riesige Werke,
berechnet auf die frommen Beiträge vieler nach einander folgenden Ge-
schlechter. Der Baumeister, welcher den Plan entworfen hatte, sah wohl
nie die Vollendung; ja mit solcher Uneigennützigst übergab er die Fortsetzung
des Werkes seinen Nachfolgern, daß wir nur in wenigen Fällen den
Mif-men des Urhebers kennen. Die größten dieser Wunderwerke sind die
Dome von Köln, Ulm und Straßburg.
Dabei ärgerte es den deutschen Bürger nicht, wenn zwischen Dom
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