Full text: Ein Lese- und Lehrbuch für obere Klassen der Volksschulen (Theil 4)

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deine Hand unschuldiger Knabe: auf deine Hand will ich 
Treue geloben." Er that cs. Seine Gefährten standen 
lange betroffen und schweigend. Dann aber sprachen sie zu 
rhrem Hauptmanne: „Du bist unser Anführer auf der 
Bahn des Verbrechens gewesen: sei er nun auch auf dem 
Pfade der Tugend!" Alle schwuren Treue auf meine Hand 
und eilten auf Befehl des Anführers, ihren Raub zurück 
zu erstatten, besserten sich und wurden ehrliche Leute. 
seltene Tugend führt Andere zur Tugend zurück. 
69 Das hochzeitliche Kleid. 
Auguste hatte von ihrer Großmutter ein schönes Kleid 
zum Geschenk erhalten. Es war von weißer, glänzenderSeide 
mit schön gestickten, rothen Blümchen übersäet, und dir Saum 
mit feinen Spitzen verbrämt. Das Mädchen hatte daran 
eine unbeschreibliche Freude. Mit Herzenslust sah sie es oft 
an, und zeigte es jeder ihrer Gespielinnen. Der Gedanke 
an das schöne Kleid war der erste bei ihrem Aufwachen und 
der letzte vor ihrem Einschlummern. Als sie es aber am 
Hochzeittage ihres Bruders zum erstenmal anzog, hatte sie 
das Unglück, beim Essen einen Flecken in das hochzeitliche 
Kleid zu machen. Bitterlich weinte das Mädchen, als es 
nach Hause kam, und der Mutter den Unfall erzählte. 
Nach einiger Zelt begegnete es ihr wieder, daß sie das 
Kleid mit zwei andern Flecken beschmutzte. Es schmerzte 
sie zwar, aber lange nicht mehr m einem so hohen Grade, 
als das erstemal, und sie vergoß nun schon keine Thräne 
mehr. „Sieh, meine Tochter," sprach jetzt die verständige 
Mutter, welche dieses bemerkt hatte, „wie es dir mit dei¬ 
nem schönen Kleide ging, so geht es auch mit der Unschuld; 
denn die Unschuld ist so recht das hochzeitliche Kleid der 
unsterblichen Seele. Man achtet und schont das schöne Kleid, 
so lange es rein und unbesieckt ist. Wird es aber mit dem 
ersten Flecken verunstaltet, so betrübt man sich sehr. Indeß 
jft's nun einmal geschehen, so schont und achtet n>an es 
weniger. Viel gleichgültiger sieht man den zweiten Flecken 
an, merkt kaum noch auf den dritten und vierten, und in 
kurzer Zeit ist das schönste Festkleid ein verworfener Lappen. 
Drum zittre vor dem ersten bösenSchritte! mit ihm sind,ach 
schon bald die andern Tritte zu einem nahen Fall gethan!
	        
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