91
frommer Begeisterung nahm er jetzt die Leier von der Wand und
sang: „Möcht' ich, Allvater, möcht' ich mein Entzücken, meinen
Dank dir würdig singen! Alles, alles glänzt in reicher Schönheit,
alles überströmt im vollen Segen; Anmuth herrschet und Freude und
an Bäumen und am Weinstocke lächelt des Jahres Segen. Schön,
schön ist die ganze Gegend in des Herbstes feierlichstem Schmucke!"
Glücklich ist der, dessen unbeflecktes Gemüth keine begangene Bos¬
heit benagt, der seinen Segen zufrieden genießt, und, wo er kann,
Gutes thut. Ihn weckt zur Freude der helle Morgen; der ganze Tag
ist ihm voll Wonne, und sanft empfängt die Nacht ihn mit süßem
Schlummer. Ihn entzückt jede Schönheit des wechselnden Jahres,
jeder Segen der Natur. Salomo Geßncr.
92. Der Herbstabend. (Schönbeschreibung.)
97. Walter, der Sohn des Försters zu Tiefengrund, kam aus
der benachbarten Stadt, wo er die Schule besuchte, um die Michaelis¬
ferien bei seinen Aeltern zuzubringen. Er hatte frühmorgens die
Stadt verlassen und war den Tag über rüstig zugeschritten. Jetzt
näherte er sich dem Ziele seiner Reise, und wie eine freundliche Vor¬
bedeutung führte ihn der schönste Herbstabend in seine Heimath ein.
Der Himmel, welcher den Tag über mit jenem dünnen, flockigen Ge¬
wölle bedeckt gewesen war, das wohl jeder in dieser Jahreszeit kennt,
fing allmählig an, sich aufzuheitern. Von Westen her rollte sich das
Gewölk, wie ein Vorhang, allmählig auf, und ließ das wunderbar
leuchtende Blau der Tiefe über uns sehen. Jetzt näherte sich sein
Rand dem Orte der Sonne, er wurde immer glänzender, noch einige
Minuten, und das Gestirn des Tages stand unverhüllt im Aether
da. Aber es war schon nicht fern mehr von der Erde, zwischen ihm
und dieser lag bereits das goldne Lichtmeer, in welchem die Sonne
bei heiterem Himmel aus unserem Gesichtskreise verschwindet, und immer
röthlicher wurde der verklärende Glanz, der die Gegenstände umher
erhellte. Walter stand und blickte still entzückt um sich her. Vor
ihm spiegelte sich, wenn er nach Abend sah, das Licht des Himmels
in einem langen, glänzenden Streifen von den Spinngeweben zurück,
die jene Stoppelfelder bedeckten. Zur Rechten waren Landleute be¬
schäftigt, das Grummet von der Wiese nach Hause zu bringen, und ein
Knabe trieb die Kühe, die er zwischen den darauf lagernden Schobern
gehütet hatte, singend nach Hause. Neben der Wiese streckte sich ein
Ackerland hin, das der Pflüger, der die braunen Furchen den Tag
lang darüber gezogen hatte, jetzt mit den müden Rossen verließ, auf
deren einem er pfeifend saß. Weiterhin war ein Feld, wo man Kar¬
toffeln aufgegraben hatte. Noch suchten einige Kinder und Frauen
emsig in der aufgewühlten Erde; aber schon fuhren die Männer die