258 
Laß klanglos mich und friedsam hier erbleichen; 
Was frommte mir annoch in später Stunde, 
Zu wandeln, eine Leiche über Leichen? 
Sie schlummern in der Erde kühlem Grunde, 
Die meinen Eintritt in die Welt begrüßt, 
Und längst verschollen ist von mir die Kunde. 
Ich habe, Herr, gelitten und gebüßt, — 
Doch fremd zu wallen in der Heimat — nein! 
Durch Wermuth wird das Bittre nicht versüßt. 
Laß weltverlassen sterben mich allein 
Und nur auf deine Gnade noch vertrauen; 
Von deinem Himmel wird auf mein Gebein 
Das Sternbild deines Kreuzes niederschauen. 
134. 
Die Hl st t u r. 
Aphoristisch. 
Von Goethe. 
Werke. Stuttgart und Tübingen 1340. XXXX, 385. 
Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen, — un- 
vermögend, aus ihr herauszutreten, und unvermögend, tiefer in sie 
hinein zu kommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt sie uns in 
den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt sich mit uns fort, bis 
wir ermüdet sind und ihrem Arme entfallen. Sie schafft ewig 
neue Gestalten z was da ist, war noch nie, was war, kommt nicht 
wieder; alles ist neu und doch immer das Alte. Wir leben, 
mitten in ihr, und sind ihr fremde. Sie spricht unaufhörlich mit 
uns und verräth uns ihr Geheimnis nicht. Wir wirken beständig 
auf sie und haben doch keine Gewalt über sie. Sie scheint alles 
auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus 
den Individuen. Sie baut immer und zerstört immer, und ihre 
Werkstätte ist unzugänglich. Sie lebt in lauter Kindern, und die 
Mutter, wo ist sie? — Sie ist die einzige Künstlerin: aus dem 
simpelsten Stoff zu den größten Contrasten; ohne Schein der An¬ 
strengung zu der größten Vollendung — zur genauesten Bestimmt¬ 
heit, immer mit etwas Weichem überzogen. Jedes ihrer Werke 
hat ein eigenes Wesen, jede ihrer Erscheinungen den isoliertesten 
Begriff, und doch macht alles eins aus. Sie spielt ein Schau¬ 
spiel: ob sie es selbst sieht, wissen wir nicht, und doch spielt sie's 
für uns, die wir in der Ecke stehen. Es ist ein ewiges Leben, 
Werden und Bewegen in ihr, und doch rückt sie nicht weiter. 
Sie verwandelt sich ewig, und ist kein Moment Stillestehen in ihr. 
Fürs Bleiben hat sie keinen Begriff, und ihren Fluch hat sie ans 
Stillestehen gehängt. Sie ist fest. Ihr Tritt ist gemessen, ihre 
Ausnahmen selten, ihre Gesetze unwandelbar. Gedacht hat sie und 
sinnt beständig; aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.