212
Bau erheblich nach der Höhenrichtung gesteigerten Querschnitt als im ebenfalls stark ge¬
streckten Grundriß: beide nur mit der Marienkapelle am Umgang und dem einschiffigen
Querhaus.
Ein zweiter Bau steht als Denkmal eines frühen Vorstoßes der Gotik nach dem Osten
in hessischen Landen. Die St. Elisabethkirche zu Marburg (1235—1283, Türme 1360 voll¬
endet), eines derjenigen Werke, denen die Kunstgeschichte stets eine besondere Aufmerksamkeit
entgegenbrachte, dem Werke ebenso wie den geschichtlichen Verhältnissen, aus denen es
hervorging. Die heilige Elisabeth, eine edle Fürstin von schwärmerischer Kirchlichkeit,
kain unter die geistliche Leitung des ihr von Papst Gregor IX. zugesandten Ketzermeisters
Konrad von Marburg, jenes „Richters ohne Erbarmen", der gegen die ketzerischen
Stedinger den Vernichtungskrieg führte. Über dem Grab einer Rom bis zur Selbst¬
hingabe willfährigen Frau entstand als ein Siegeszeichen der Kirche jenes köstliche gotische
Werk, an dem ein vornehmer Künstler aus mancherlei Anregung heraus mit innerlicher
Verarbeitung der ihm zugänglichen Formgedanken ein Werk von seltener Kühnheit und
Selbständigkeit schuf. Eine Vierung mit drei gleich langen, je im Vieleck geschlossenen
Kreuzarmen — das weist auf den Niederrhein —; diese ohne Grund zweigeschossig, mit
einem Trifolium, obgleich kein Umgang angeordnet ist, — das ist eine jener Schmuck¬
gestalten, die in Dijon und Braisne auftreten; — endlich ein dreischiffiges Langhaus in
Hallenform — das weist auf den Einfluß der inzwischen von Südfrankreich vorgedrungenen
Predigtkirche, auf die Einwirkung der Dominikaner in der Stadt Konrads von Marburg,
des ersten deutschen Inquisitors; — alles vereint durch eine herzliche Einfachheit der
Gliederung und eine echt künstlerische Sicherheit der Formgebung.
Verfasser schildert eine Reihe von gotischen Klosterbauten Süddeutschlands.
Als diese Bauten entstanden, war schon ganz Deutschland erfüllt von den neuen
Mönchsgemeinschaften der Dominikaner und Franziskaner, die den Zisterziensern überall
den Rang in der Askese abliefen und diese aus der ursprünglich beabsichtigten Schlichtheit
in die Reihe der vornehmen und reichen Orden drängten; der Einfluß der Zisterzienser
auf das städtische Bauwesen war daher gering: sie erschienen wie Landedelleute gegenüber
den in den bürgerlichen Gemeinwesen sich ansiedelnden Predigt- und Bettelmönchen.
Dagegen wahrte die Straßburger Schule sich ihre Bedeutung dadurch, daß sie in
Meister Erwin einen Künstler ersten Ranges hervorbrachte, der allem Anschein nach persönlich
seine Zeitgenossen gewaltig überragte. Dieser Meister erscheint in den Akten erst im
Jahre 1284. Seine Tätigkeit begann aber zweifellos viel früher, und zwar äußert diese
sich zunächst in einigen erhaltenen Rissen zur Westschauseite des Straßburger Münsters,
an denen der an den Kathedralen von Paris und Amiens geschulte, mit jedem Durch¬
arbeiten der ihm vorschwebenden Gedanken reichere Geistesarbeit entfaltende Meister eine
geradezu unvergleichliche Herrschaft über alles jenes Baukönnen bekundet, das der neue
Stil seinen Freunden an die Hand gegeben hatte. Erwins Pläne wurden auch nach
seinem Tode (17. Januar 1318) fortgeführt. Es entstanden nach ihm die beiden Unter¬
geschosse sowie die dritten Geschosse der Türme. Erst nach 1365 wurde das die Einheit
des Aufbaues störende Zwischengeschoß zwischen den beiden Türmen aufgeführt, das
namentlich das Verhältnis der Turmgruppe zur Kirche völlig verschob.
Diese Wesffeite mit ihren drei Toren, ihren großartigen Rosenfenstern, ihrem schon
die Flächen völlig belebenden zierlichen Systemen von Arkaden, ihren Nischen und Wimpergen
ist künstlerisch wohl eine der höchsten Leistungen der Gotik. Denn bei einer gewaltigen
Fülle der Einzelheiten, beim wahren Schwelgen in der Kunst des Meißels ist doch in den