§. 643. Der Gang des geschichtlichen Lebens seit dem Frankfurter Frieden. 531
Krieges große Neigung, mit Frankreich Hand in Hand zu gehen, und tief genug ließ
sich der Reichskanzler Graf Benst mit dem Herzog von Gramont, dem Gesandten
Frankreichs ein. Nur die rasche» Erfolge der deutschen Waffen und das Mißtrauen
gegen Rußland verhinderten den verabredeten Kriegsbund, und der gewandte Staats-
mann fand sich schnell in die neuen Verhältnisse. Wie wenig auch die Gründung des
deutsche» Reichs unter Preußens Aegide in der Hofburg und den maßgebenden Kreisen
Wiens Sympathien erregte, so unterließ Gras Benst doch nicht, in einem Schreiben an
Bismarck die besten Wünsche für das große historische Ereigmß auszusprechen und eine
freundschaftliche Annäherung beider Reiche in Aussicht zu stellen. Auch bei dem Sieges¬
fest in Berliu fehlte es nicht an Kundgebungen von Seiten des Kaisers, so wenig sie
auch von Herzen kamen. Desto aufrichtiger begleitete die deutsche Bevölkerung und die
liberale Presse die Siege der Stammesgenossen mit warmer Theilnahme; sie erkannten
mit richtigem Gefühle, daß der nationale Aufschwung im Nachbarreiche auch ihnen
Stärke verleihe« werde. Und gerade jetzt war den österreichischen Deutschen eine mora-
tische Stiche mehr als je Vonnöthen; denn die statuschen Völkerschaften, die mit ihnen
in derselben Reichshülfte vereinigt sind, vor Allem die Czechen in Böhmen strebten nach
einer vorherrschenden Stellung, wie sie die Magharen in dem östlichen Theile des Reichs
imte haben. Wie die Centrnmsfraction im Berliner Reichstag, so suchte auch hier
eine feindselige Partei das deutsche Wesen, die deutsche Bildung und Wissenschaft zu unter-
drücken, »itd anstatt des deutschen Liberalismus eine ultramontane, slavische, feudale
Koalition au die herrschende Stelle im österreichischen Reichsrath zu bringen. Was der
reichsfeindlichen Partei in Berlin nicht gelang, erreichten ihre Gesinnungsverwandten in
Wien: zum allgemeinen Erstaunen trat im Februar ein Ministerium an die Spitze der Fe^uac
Regierung, dessen Hauptmitglieder, der »ltramoutane Hohenwart, der schwäbische lb 1
Particnlarist Schaffte, der czechifche Habietinek keine anderen Verdienste anfzu-
weisen hatten, als daß sie dem neuen deutschen Reich mit seinen nationalliberalen Ten¬
denzen von Grund der Seele seiud waren. Wie viele Experimente die Welt seit zwei
Jahrzehuten im österreichischen Regierungssystem erlebt hatte: dennoch erregte diese
Schöpfung einer im Verborgenen wirkenden reactionären Camarilla gerechte Verwun¬
derung. Nach langen Berathungen trat das neue Ministerium mit Vorlagen hervor,
welche die Autonomie der einzelnen Länder Cisleithaniens auf Kosten der Rechtseinheit
erweitern, insbesondere einen dem Staatsvertrag mit dem ungarischen Transleithanien
sich annähernden „Ausgleich mit den Czechen" und eine größere Selbständigkeit der
Polen in Galizien anbahnen sollten. Den Einzellandtagen eine größere Kompetenz zu
geben, die Provinzen in Bezug auf Gesetzgebung und Verwaltung unabhängiger zu stellen,
die Rechte des gemeinsamen Reichsraths und Reichsministeriums zu mindern, war das
Ziel dieser Begründer „einer wahrhaft österreichischen Politik". Das Uebergewicht des
deutschen Elements in der westlichen Reichshälfte diesseits der Leitha sollte verdrängt
werdeu durch einen Föderalismus, in welchem den slavifchen Völkerstämmen unter dem
Schilde der „Gleichberechtigung" das entscheidende Wort zufallen mußte; die constitu-
tionelle Reichsverfassung sollte zu einem Schattenbild herabgesetzt und der Schwerpunkt
in die Provinziallandtage verlegt werdeu. Um diesen Zweck zu erreichen, wurde beschlossen,
diejenigen Landesversammlungen, in welchen das deutsche Element vorwiegend war, auf¬
zulösen und neue Wahlen anzuordnen. Es war ein eigentümliches Zusammentreffen, "ug.
daß in demselben Augustmonat, als die Zusammenkunft der beiden Kaiser in Ischl und 8
der beiden Reichskanzler in Gaftein den Glauben an eine größere Annäherung zwischen
dem deutschen Reich und der österreichisch-ungarischen Monarchie erweckte, Franz Joseph 13. ävg
jene Patente erließ, welche die deutsche Verfassungspartei in Oesterreich als eine „Kriegs-
erklHrung" auffassen mußte. Sie verfügten die Auflösung des Abgeordnetenhauses, des
Reichsraths und der deutschen Landtage und ordneten an, daß die neugewähtten Depu¬
taten am 14. September sich wieder versammeln sollten. Damit war dem deutschen
verfassungstreuen Oesterreich das Zeichen zu einem Kampf auf Leben und Tod gegeben.
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