Full text: Lektüre zur Geschichte des 19. Jahrhunderts (Teil 2)

182 Georg Kaufmann. 
sagen. Auch hier herrscht ^Streit über die Auffassung, und auch die von 
den Aposteln des Meisters als „klassisch" gepriesene Formulierung in 
dem Vorworte von Marx' „Kritik der politischen Ökonomie" enthält 
Sätze, die verschiedene Deutung zulassen. 
Einige seiner Anhänger haben die Theorie so vergröbert, daß sie 
den idealen Faktoren, dem Glauben der Menschen, ihren sittlichen und 
religiösen Antrieben und Bedürfnissen, keinerlei Bedeutung beimessen 
und alles geschichtliche Werden nur als „Kampf um den Futterplatz" 
und als „Wirkung des Futters" fassen. Das lag Marx sern, dazu war 
er selbst zu fein gebildet, stand selbst zu stark unter dem zwingenden 
Bann wissenschaftlicher und sittlicher Uberzeugungen; aber er behauptete, 
daß alle diese Vorstellungskreise selbst erst wieder Produkte Wirtschaft- 
licher Prozesse seien, daß die wirtschaftlichen Elemente die einzige letzte 
Ursache bildeten. Das ist nun einmal ein Dogma, eine subjektive, der 
Bildung und den Erfahrungen einzelner entsprossene und entsprechende 
Behauptung, nicht mehr. Daß dem so ist, lehrt die Geschichte der Philo- 
sophie und wird erläutert durch das vergebliche Bemühen der Marxisten, 
ihr Dogma zu beweisen oder auch nur anschaulich zu machen und aus- 
zubauen. 
Sodann aber ist zu bemerken,' daß das Urteil'über den Ursprung 
der sittlichen und intellektuellen Mächte die wissenschaftliche Auffassung 
geschichtlicher Vorgänge nicht oder nicht wesentlich beeinflußt. Männer, 
die über diese metaphysische Frage entgegengesetzter Meinung sind, 
können in der Beurteilung der historischen Prozesse übereinstimmen, 
denn der in Marx' Dogma vermutete Ursprung der sittlichen Überzeu- 
gungen würde in vorgeschichtliche Zeiten fallen. Daß die Wirtschaft- 
lichen Verhältnisse in der EntwiÄungAer,^Völker eine große, daß sie in 
vieler Beziehung die entscheidende Rolle spielen, das brauchten wir 
nicht erst von Marx zu lernen. Das ist z. B. von Gibbon und Mommsen 
an der Geschichte des römischen Reiches mit einer Klarheit und einer 
erschütternden Kraft zur Darstellung gebracht, der die marxistische 
Literatur nichts an die Seite zu stellen hat. Marx selbst ist dagegen in 
seiner Geschichte der „Revolution und Kontrerevolutiou iu Deutsch- 
land" mit seiner Auffassung gescheitert. Abgesehen davon, daß das 
Buch unbedeutend ist und den Leser enttäuscht, so gerät Marx hier in 
vollendeten Widerspruch mit seiner Theorie, indem er eine so wichtige 
Erscheinung wie das kleindeutsche Programm als die Erfindung eines 
einzelnen behandelt, statt es als das Ergebnis der politischen und wirt- 
schaftlichen Verhältnisse zu begreifen. Daß er als diesen Erfinder Ger- 
vinus bezeichnet, das ist ein weiterer und ganz grober Irrtum, der 
zugleich deutlich macht, mit welcher Oberflächlichkeit Marx Tatsachen 
behandeln konnte, wie sehr ihm die dialektische Bewegung der Begriffe 
die Hauptsache war. Zu ähnlichen Urteilen fordern die Prophezeiungen 
heraus, die Marx und Engels über die Entwicklung der Staaten und
	        
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