322 Das Reisen sonst und jetzt. 
nung von der Heimat geborgen sei, weil das Auge der Obrigkeit über 
ihm wache. 
Im zweiten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts kam die Fahrpost 
auf, welche nicht bloß am Tage, sondern auch nachts mit Pässen wohl¬ 
legitimierte Passagiere im Hauptwagen und zuweilen — wenn die Reise¬ 
lust sehr groß war — in einem oder zwei Beiwagen, je vier Personen 
in die Welt hinausbeförderte. Ja, es gab Tage, wo die Posthalter in 
kleinen Städten auf der Hauptstraße des Reiseverkehrs erschreckt 
und überrascht wurden durch drei Beiwagen, die weiter befördert 
werden mußten. Aber die gute Ordnung unseres Staatswesens half 
auch in solch außerordentlichen Fällen über alle Verlegenheit der 
Posthalter fort, wie sie sich dessen rühmten, wenn sie abends nach 
der großen Katastrophe am Solotisch im Kreise des Herrn Bürger¬ 
meisters, des ersten Kämmerers und des Herrn Apothekers einen Er¬ 
holungstrunk genossen und mit Stolz auf die Erfolge versicherten: wir 
legen jetzt in vierundzwanzig Stunden richtig unsere achtzehn Meilen 
zurück. 
Da trat in der Mitte der zwanziger Jahre gar die Schnellpost auf! 
„Vier Pferde!“ „Jede Stunde eine Meile!“ „Und sie geht alle Tage 
und nimmt samt Beiwagen achtzehn wagehalsige Passagiere mit, die 
sich nicht scheuen, in so rasender Schnelligkeit Tag und Nacht durch 
die Welt zu jagen! Das muß man sehen, um es zu glauben!“ Und 
wirklich : unser guter Lehrer, der davon gehört und sich beim Posthalter 
erkundigt hatte, teilte die Merkwürdigkeit uns Kindern in der Schule 
mit, daß morgen abend Punkt 5 Uhr 32 Min. eine solche Schnellpost 
mit vier Pferden in unserer Vaterstadt direkt von Berlin ankommen 
und bei dem Posthalter vor der Tür fünf Minuten halten werde, um 
sodann wieder davon zu jagen, bis nach Königsberg, das in dreimal 
vierundzwanzig Stunden erreicht werde. 
Nach ernstlicher Beratung mit dem strengen Herrn Hilfslehrer 
wurde uns denn noch am selbigen Tage bekannt gemacht, daß wir 
Kinder alle, wenn wir fest versprächen, morgen nicht auf der Straße 
neben der Schnellpost herzulaufen, mit den beiden Lehrern bis eine 
halbe Meile vor der Stadt hinausgehen würden, wo wir die Schnellpost 
„im vollen Fluge“ würden vorüberjagen sehen. Wir sollten nur unseren 
Eltern noch ankündigen, wie alle nötigen Vorsichtsmaßregeln würden 
getroffen werden, daß niemand von uns in dem gefährlichen Augenblicke 
die Landstraße betreten könne. 
Die Expedition ging bei schönem Wetter ganz glücklich von statten. 
Die Frau des Lehrers hatte eine Waschleine mitgenommen, welche auf der 
Landstraße von Baum zu Baum gebunden wurde. Die ganze Gesellschaft, 
groß und klein, mußte sich hinter dieser Barrière aufstellen und ge¬ 
duldig verharren. Nur die beiden Lehrer, der Hauptlehrer mit der uns 
wohlbekannten dicken Taschenuhr in der Hand, wagten es, die Land¬ 
straße zu betreten und hinauszublicken in die Ferne, von wo der Zug 
herkommen sollte. Unsere Herzen pochten vor Neugier und Wundei- 
sucht. Die Unruhigen drängten dermaßen vorwärts, daß schier die 
ausgezeichnete Waschleine hätte zerreißen können, wenn nicht die 
Schulmeisterin mit dem Röhrchen die Mutwilligsten von uns in Respekt 
gehalten hätte. Da, richtig — es war wirklich „auf die Minute ,
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.