Full text: Lesebuch nebst fachkundlichen Anhängen für Fortbildungs-, Fach- und Gewerbeschulen

schont bleiben. Doch wenn du mich wiederum durch meine Ge¬ 
hilfen einlädst, werde ich dich ohne Erbarmen mitnehmen.“ 
„Deine Gehilfen,“ sprach jetzt Gottfried erleichtert, „kenne ich 
nicht, sonst würde ich sie fliehen, solange mir das Leben lieb 
ist.“ „Ja,“ versetzte der Jüngling unter schadenfrohem Ge¬ 
lächter, „die Menschenkinder fürchten den Tod, aber sie lieben 
seine Gehilfen; darum mache ich täglich reiche Beute. Doch 
du bist noch jung und unerfahren und sollst einst die Stütze 
deiner Eltern werden; deshalb will ich dich mit meinen Gehilfen 
bekannt machen.“ 
Gottfried hatte die Rechte um den dicksten Stamm des 
Holunderstrauches gelegt und seinen Blick mit Neugier und 
Angst auf den seltsamen Gast gerichtet. Am westlichen Himmel 
glänzte das Abendrot in purpurnem Schimmer, und in der dicht¬ 
belaubten Gartenhecke sang ein Vöglein sein letztes Lied. 
„Dein Bruder, um den du eben trauerst,“ begann der Tod, 
„wagte sich auf die dünne Eisdecke des tiefen Weihers; er 
brach ein und wurde meine Beute, während du laut schreiend 
am Ufer standest. Dein bester Spielgenosse, dessen frischer 
Grabhügel noch feucht ist von deinen Tränen, erkletterte die 
höchsten Bäume; er tat einen Fehlgriff, der morsche Ast gab 
nach, und — der jugendfrische Knabe lag in meinen Armen. 
Unvorsichtigkeit, Leichtsinn und Übermut waren 
meine Gehilfen, die mir zwei blühende Menschenleben vor der 
Zeit zuführten. Und wo immer die Jugend spielt und tollt, da 
sind meine Helfershelfer tätig. Sie lauern an dem kühlen Flusse 
und an der klaren Quelle, um das erhitzte Kind zum Bade oder 
Trünke zu verleiten; sie stehen an den steilen Abhängen der 
Berge und neben den Gerüsten der Neubauten; sie umschweben 
den schaukelnden Kahn und den dahinrollenden Wagen. Und 
kann auch der frevelhafte Leichtsinn nicht ganz sein Werk 
vollbringen, so macht er doch den einen zum Krüppel oder bringt 
dem andern Fieber und Siechtum, so daß sie vor der Zeit 
dahinsterben.“ 
Gottfried blickte bei diesen Worten beschämt zu Boden und 
sagte kein Wort; der Tod aber fuhr fort: „Auch die Unrein¬ 
lich k eit ist meine Gehilfin. Sie duldet den Schmutz an 
Kleidern und Betten und scheut das Wasser wie ein toller Hund. 
Die wiederholte und gründliche Reinigung des Körpers durch 
kalte Abwaschungen oder Bäder kann sie nicht ausstehen, und 
das Fegen und Schrubben in den Wohnräumen ist ihr verhaßt. 
Sie verhindert auch das tägliche Lüften der Wohn- und Schlaf¬ 
zimmer, damit die Menschen statt der reinen, belebenden Luft 
stinkende Dünste einatmen.“ „Jetzt weiß ich auch,“ versetzte 
der Knabe, „weshalb du bei ansteckenden Krankheiten besonders 
in den unsauberen Häusern und dumpfen Wohnungen die reichste
	        
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