Full text: Wege zum Staatsgedanken

Die psychologischen Grundlagen. 
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notwendig diese Tugenden auch aus anderen Gründen sind. Denn 
in diesem steten Mitdenken des Staatsgedankens, im 
Einfühlen in seine Aufgaben ist die Lauptangelegenheit zu 
sehen. Sonst läuft man leicht Gefahr, Rücksichtnahme, Äingabe- 
sittlichkeit für das Leben in einem kleinen Kreise zu erzeugen, ohne 
die gleichen Eigenschaften für den größten Kreis, das Leben im 
Staate, geweckt zu haben. Beispiele für eine derartig einseitige 
Bildung des Willens sind jedenfalls rasch gefunden. Man mag 
z. B. der Sozialdemokratie noch so schroff gegenüberstehen, an¬ 
erkennen muß man, daß sie in ihren Reihen auch Männer zählt, bei 
denen die Eingabe an die Interessen der Arbeiterschaft wirklich 
Herzenssache, sittlicher Wert ist, und dennoch versagen sie dem Staate 
gegenüber, sind blind und taub für alles, was dem Staate frommt. 
Andererseits kann man beobachten, daß jemand für Fremde, für einen 
„großen Kreis" alle Opfer zu bringen vermag, während er im häus¬ 
lichen Leben ein harter Egoist ist. 
Man hat endlich gegen den Aufbau des Willens auf der Grund¬ 
lage des Gefühls mancherlei eingewendet, und auch Kerschensteiner ge¬ 
nügt die Erziehung zur Vaterlandsliebe nicht. So könnte man auch 
sagen: Eine staatsbürgerliche Erziehung, die sich auf so schwanken¬ 
dem Grunde, auf dem Größen- und Bewunderungsbedürfniffe des 
Kindes ausbaut, kann keine weitreichende Wirkung üben. Der weiche 
Grund wird sich auflösen, wird verschwinden, wenn die Fluten des 
Lebens ihn umspülen, wenn Strebertum, Ehrgeiz, die Sucht hoch¬ 
zukommen, sich zu bereichern auf Kosten anderer oder der Gesellschaft, 
in die Seele einziehen. Dem gegenüber sei nur aus die religiöse Erziehung 
verwiesen. Auch den religiösen Menschen im Kinde suchen wir ja von 
der weichen Grundlage des Gefühls her zu formen; wir treiben die 
Pfähle religiös bedingten Pflichtbewußtseins so tief in diesen Grund, 
daß sie und das Erdreich, in dem sie haften, allen Stürmen zu trotzen 
vermögen sollten. And doch wissen wir nicht, ob nicht die erste große 
Flut des Lebens beides hinwegschwemmt, als wäre es nie gewesen. 
Dagegen wissen wir aber, wie oft nach aller Verheerung durch die 
Lebensstürme die Gefühle der Jugend wieder die Oberhand ge¬ 
winnen, einfache, kindliche Gefühle, welche die Mutter, die Schule 
oder ein treuer Seelsorger ins Herz gepflanzt haben. Sollte ähn¬ 
liches nicht auch möglich sein bei den Gefühlen für Staat und Volk? 
Jedenfalls müssen wir zunächst einmal versuchen, den Staat so dem 
Kindesherzen nahe zu bringen, wie wir religiöse Pflichten oder das 
Menschenleben nahe zu bringen suchen. Es ist eine alltägliche Er¬
	        
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