Full text: Neueste Geschichte (Theil 4)

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der ganzen Reiterei waren nur noch 800 ausgehungerte Pferde übrig, meist 
Offizieren gehörig, die nun mein Corps vereinigt wurden. Mehrmals war 
das Heer, noch öfter waren einzelne Corps von den Russen umringt und 
abgeschnitten, und wurden nur durch List oder durch die große Tapferkeit derer, 
die noch unter den Waffen waren, gerettet. Die gräßlichsten Scenen, die 
sich auf diesem trostlosen Rückzuge ereigneten, kamen in solcher Menge vor, 
daß nur wenige von der Geschichte aufbewahrt, aber keine in ihrer ganzen 
Schauderhaftigkeit beschrieben werden können. Hier nur Einiges davon. Mar- 
schall Reh mußte, um sich vor den verfolgenden Russen zu retten, in einer 
dunkeln Nacht über einen Fluß setzen, dessen Eisrinde glücklicher Weise trug. 
Alle Wagen, alles Gepäck mußte am User stehen bleiben, und als die Mei¬ 
sten hinübergegangen waren, fehlte es vielen an Kraft, am andern steilen und 
beeisten Ufer hinanzuklimmen, so daß sie zurückstürzten, das Eis zerborst, 
und sie ohne Rettung in das Wasser hinabsanken. Noch kläglicher war das 
Geschrei der armen Kranken, die auf den Wagen lagen, die Hände aus¬ 
streckten, und flehten, sie doch nicht hülflos zu verlassen. Ney ersuchte einige 
Wagen über den Fluß gehen zu lassen; als sie aber mitten darauf waren, 
brach das Eis zusammen. Von dem Ufer hörte man aus dem geöffneten 
Schlunde ein herzzerreißendes, wiederholtes Angstgeschrei, dann ein unter¬ 
brochenes Stöhnen, immer schwächer werdende Seufzer, und endlich eine 
gräßliche Stille. Alles war im Wasserschlunde verschwunden. 
In den Dnieper ergießt sich auf dessen rechter Seite ein Fluß, die 
Berezina. An sich ist er nicht bedeutend; aber er bildet auf beiden Seiten 
breite und tiefe Moräste, die man nur auf einzelnen Brücken überschreiten 
kann. Wurden diese von den Russen zerstört, oder nur stark besetzt, so war 
der ganze Ueberrest des französischen Heeres verloren. Wirklich hatten die 
Russen die Absicht, hier dem ganzen Trauerspiel ein Ende zu machen. Wäh¬ 
rend Kutusow und der Kosackenhetmann Platos von hinten drängten, 
rückten Tschitschagof von Süden, und Wittgenstein von Norden schnell 
heran, an der Berezina zusammenzutreffen, und Napoleon den Uebergang zu 
wehren. Als dieser am Flusse ankam, sah er zn seinem Entsetzen, daß der 
Uebergangspunkt von den Russen bereits besetzt sei. Mit Gewalt war hier 
nichts auszurichten; aber er nahm zur List seine Zuflucht. Er stellte sich, 
als wollte er eine Brücke schlagen lassen, während er an einer andern Stelle, 
die nur wenig bewacht wurde, in größter Stille wirklich eine solche zimmern 
ließ. Die ganze Nacht wurde gearbeitet; aber auch jetzt noch hätten einige 
russische Kanonen hingereicht, den Bau zu zerstören. Dies erwartete auch 
Napoleon, und hielt sich selbst für verloren. Allein Tschitschagof bildete sich 
ein, Napoleon werde weiter unterhalb übergehen, ließ seine Truppen ab- 
ziehen, und — Napoleon war gerettet. Das war freilich für diesen ein 
großes Glück; aber die Brücke war nur für das Fußvolk eingerichtet; schnell 
ließ er noch eine zweite für das Geschütz, die Wagen und die wenigen Reiter 
bauen, und am 27. November gingen er und seine Garden über. 
Bis so weit ging Alles gut, aber nun kam das Schreckliche. Sobald 
man die Garden übergehen sah, drängten sich alle Uebrige von allen Seiten 
herbei, sich an sie anzuschließen, so daß in einem Augenblicke eine tiefe, breite 
und verwirrte Masse von Menschen, Pferden und Wagen den schmalen Ein-
	        
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