Full text: Grundriß der preußisch-deutschen sozialpolitischen und Volkswirtschafts-Geschichte

Das Unterrichtsrvesen. 
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Standesvorurteile vergessen. In gewöhnlichen Zeiten herrschen Pro¬ 
tektion und Kastengeist, der Adel überwiegt ganz unverhältnismäßig 
in den oberen Stellungen des Heeres- und Zivildienstes, und für 
den Eintritt in den Verwaltungsdienst ist der Besitz eines Vermögens 
Bedingung. 
Auf dem Gebiete des Schulwesens brachte die Verfassung die 
Verheißung eines allgemeinen Unterrichtsgesetzes. Sie ist bis jetzt 
nicht eingelöst, da die Bestimmung der Verfassung, daß den „religiösen 
Unterricht in der Volksschule die betreffenden Religionsgesellschaften 
leiten", den kirchlichen Parteien beider Konfessionen immer wieder eine 
Handhabe zu dem Versuche bot, das Schulwesen dem Staate zu 
entziehen und der Kirche zu unterwerfen. Die endgültige Entscheidung 
in diesem Kampfe durch ein Unterrichtsgesetz herbeizuführen, vermied 
die Regierung um so mehr, als noch Jahrzehnte hindurch eine all¬ 
gemeine gesetzliche Regelung über die Aufbringung der Schullasten 
nicht möglich war. Rur der Graf Zedlitz-Trützschler hatte 1892 
den Mut, mit einem Unterrichtsgesetz aufzutreten, das die Volks¬ 
schule wieder dem kirchlichen und ultramontanen Einfluß ausgeliefert 
hätte. Als dem Kaiser die allgemeine Aufregung des gebildeten 
Bürgertums hierüber die Augen öffnete, fiel der Minister mit seinem 
Gesetzentwurf. Doch gelang es der streng kirchlichen Partei, auf 
den Unterrichtsbetrieb in der Volksschule den größten Einfluß während 
der Reaktionszeit durch die von Ferd. Stiehl in salbungsvollem 
Stil verfaßten drei Regulative vom 1.—30. Okt. 1854 zu ge¬ 
winnen. Von diesen regelte das erste den Unterricht in den Semi¬ 
narien, das zweite den in den Präparandenanstalten, das dritte den 
in den Volksschulen. Durch sie wurde der Unterricht in den Realien 
erheblich zu Gunsten des Religionsunterrichts, dessen Stundenzahl 
verdoppelt wurde, zurückgedrängt und den an die Spitze gestellten 
orthodoxen Lehren durch die mittelalterliche Forderung, daß die 
Religion alle Fächer beherrschen solle, unterworfen. Den christlichen 
Glauben selbst ließen die Regulative nicht durch Erziehung und 
Überzeugung wachsen und gedeihen, sondern sie wollten Religiosität 
durch äußere Gewöhnung und gedächtnismäßige Aneignung eines 
ungeheuren Stoffs (30—40 Kirchenlieder, 180 Sprüche, der ganze 
kleine Katechismus, die Sonntagsevangelien u. s. w.) erzeugen. Be-
	        
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