Full text: Meister Bindewald als Bürger

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zeigte. Alles war in großer Aufregung. Männer und Jungen 
verteilten Parteiflugblätter, riefen wohl auch die Wahlparole aus. 
Am Abende sollte in dem größten Saale der Stadt eine Wähler¬ 
versammlung stattfinden. Oie will ich besuchen, dachte Wilhelm. — 
Er trat in den bis auf den letzten Platz gefüllten Saal. Eben 
schloß der Redner. Langanhaltender Leifall brauste durch den 
Saal. Ein schrilles pfeifen einer Gruppe löste neue Leifallssalven 
aus. Auf der Bühne saßen mehrere Männer an einem Tische, 
von denen sich jetzt der eine erhob und dem Redner dankte. 
Nach 10 Minuten sollte die Aussprache beginnen. Wer reden 
wollte, mutzte sich schriftlich beim Vorsitzenden melden. 
va tönte die Glocke des Vorsitzenden. Ein Mann, dessen 
Stimme das Kommandieren gewöhnt war, erhielt zuerst das Wort. 
Er betonte u. a., daß die Landwirtschaft sich nur halten kann, wenn 
das ausländische Getreide von einem Zoll getroffen wird, wenn die 
Grenzen gegen fremdes Vieh gesperrt bleiben. „Vas wird immer 
Bismarcks großes Verdienst bleiben, daß er der vaterländischen Arbeit 
Schutz verschafft hat. Auf diesem Schutze beruht Deutschlands Glück." 
Rur wenig Leifall folgte dieser Rede. 
hierauf trat ein Mann mit goldenem Zwicker und scharfge¬ 
schnittenen Zügen auf und wartete eine Weile, ehe er zu sprechen 
begann, bis es ruhiger wurde. Er hob in seiner Rede beson¬ 
ders hervor, daß die Reichen zu den Lasten für den Staat 
noch mehr als je beitragen müßten, daß der „famose Zoll¬ 
tarif" alle Lebensmittel verteuert habe. „Wir Arbeiter bluten 
als Kanonenfutter auf dem Zchlachtfelde, wir bluten weit mehr 
und viel mehr auf dem blutigen Zelde der Arbeit." (Bravo.) 
„Wozu brauchen wir das große Heer? Alle Arbeiter der Welt 
wollen den Frieden; wozu die wahnsinnige Zlotte, die uns mit 
England verfeindet?" Dann zog er gegen das Kapital und 
gegen die Kirche los. Er schloß: „Erst wenn die Arbeiter die 
Macht haben, wird es besser." 
Die Worte des Redners entfesselten lauten Leifall seiner 
Parteifreunde. 
Wilhelm wartete, wer nun wohl alle diese Unwahrheiten 
widerlegen würde. Es meldete sich ein älterer Herr. Er hielt 
dem Vorredner vor, daß die Arbeiter selber regieren und 
die Herren in den Zabriken werden wollen. „Werden wirk-
	        
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