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Die klassischen Epiker.
5. Reisephantasie.
Mittagsruhe haltend auf den Matten
in der morschen Burg gezacktem Schatten,
vor dem Türmchen eppichübersponnen,
hab' ich einen Sommerwunsch gesonnen,
6 während ich einEidechsschwänzchen blitzen
sah und husch! verschwinden durch die
Ritzen . . .
Wenn es lauschte.. . wenn es meiner
harrte . . .
wenn — das Pförtchen in der Mauer
knarrte . . .
dem Geräusche folgend einer Schleppe,
io fänd' ich eine schmale Wendeltreppe
und, von leiser Hand emporgeleitet,
droben einen Becher Wein bereitet . . .
Dann im Erker säßen wir alleine,
plauderten von nichts im Dämmerscheine,
i5 bis der Pendel stünde, der da tickte,
und ein blondes Haupt entschlummernd
nickte;
unter seines Lides dünner Hülle
regte sich des blauen Quelles Fülle. . .
und das unbekannte Antlitz trüge
2o Ähnlichkeiten und Geschwisterzüge
alles Schönen, was mir je entgegen
trat auf allen meinen Erdewegen . . .
was ich Tiefstes, Zartestes empfunden,
wär' an dieses blonde Haupt gebunden
25 und in eine Schlummernde vereinigt,
was mich je beseligt und gepeinigt. . .
dringend hätt' es mich emporgerufen
dieser Wendeltreppe Trümmerstufen,
daß ich einem ganzen, vollen Glücke
stillen Kuß auf stumme Lippen drücke...
einmal nur in einem Menschenleben —
aber nimmer wird es sich begeben!
6. Vision.
Als ich jüngst vom Pfad verirrt war,
wo kein Jäger und kein Hirt war,
führt' ein Licht aus dunkelm Tann
mich an eines Hüttleins Schwelle,
drin bei matter Ampelhelle
eine greise Parze spann.
Draußen schlug der Wiud die Schwin-
und die Bergesströme singeu ®en'
hört' ich ihren dunkeln Sang . . .
und ich sah den Faden schweben,
und der Faden schien ein Leben —
meines? dacht' ich zauberbang.
Wage, Mensch, die höchsten Flüge,
deiner Parze starre Züge
sehen längst das nahe Ziel!
Tummle dich, ein kühner Ringer:
ihre hagern, harten Finger
enden bald das edle Spiel. . .
Eine Träne seh' ich zittern,
einen Kranz mit Silberflittern
seh' ich hangen an der Wand:
in der Alpenhütte Kammer
spinnt an einem alten Jammer
einer Greisin welke Hand.
7. Noch einmal.
Noch einmal ein flüchtiger Wandergesell —
wie jagen die schäumenden Bäche so hell,
wie leuchtet der Schnee an den Wänden so grell!
Hier oben mischet der himmlische Schenk
s aus Norden und Süden der Lüfte Getränk,
ich schlürf' es und werde der Jugend gedenk.
O Atem der Berge, beglückender Hauch!
Ihr blutigen Rosen am hangenden Strauch,
ihr Hütten mit bläulich gekräuseltem Rauch!
io Den eben noch schleiernde Nebel verwebt,
der Himmel, er öffnet sich innig und lebt;
wie ruhig der Aar in dem strahlenden schwebt!