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Das jüngste Deutschland. 
8. Max Geißler. 
Geb. 1868 in Großenhain im Königreich Sachsen. War zwölf Jahre lang an der Leitung 
kleinerer und größerer Zeitungen beteiligt, ging dann mit Frau und Kind nach Italien 
und war kurze Zeit Schullehrer in seiner Heimat, bis er endlich nach verzweifelter Not 
rasch zu Anerkennung gelangte; lebt in Weimar. 
Gedichte. Volksausgabe 1908. 
1. Die alte Geige. 
Ich hab' ein altes Saitenspiel 
gespielt in alten Tagen. 
War wohl des lachenden Glücks zu viel: 
die Saiten sind zerschlagen; 
5 hängt nun verloren an der Wand, 
verlernte, das Glück zu loben; 
hat auch der Staub mit grauer Hand 
ein Decklein drüber gewoben. 
Nur manchmal, wenn auf Schrein 
und Truhn 
io die Sonnenlichter lachen, 
da wollen, die verträumt drin ruhn, 
die alten Lieder erwachen; 
da tönt's, als würde zu Spiel und Tanz 
wie in jungen Tagen geworben — 
i5 's ist ein verirrter Sonnenglanz: 
sind alle, alle gestorben. 
2. Sommersegen. 
Im Grase stimmt 
ihr Spiel die Grille. 
Der Heuduft schwimmt 
süß durch die Stille. 
b Angustwind wellt 
in weichem Streifen 
das Korn. Im Feld 
der Traum vom Reifen. 
Und durch den Glanz, 
io drin Lerchen klingen, 
geht still ein Tanz 
von Schmetterlingen. 
Ein Segen streicht 
sacht durchs Gelände; 
i5 der kommt und reicht 
mir seine Hände. 
3. Abendlicht. 
Das ist des Tages goldne Stunde, 
die Rosen in mein Zimmer trägt 
und lauscht, die Hand am Flüstermunde, 
ob leiser nun die Standuhr schlägt, 
ob von dem Glück der Erdenrunde 5 
ein Schimmer an mein Fenster fällt; 
das ist des Tages goldne Stunde, 
die Lieder in den Händen hält. 
4. Der Rosenstrauch zu 
Hildesheim. 
Sie ritten zu jagen das weiße Reh, 
Kaiser Ludwig und seine Mannen. 
Die Weihnacht kam, es fiel ein Schnee; 
da schliefen Quell und Tannen. 
Hallo! Hell riefen die Hörner im Holz. 5 
Ward eine Rast erkoren? 
„Das geweihte Kreuz war des Kaisers 
Stolz — 
das Kreuz hat der Kaiser verloren!" 
Da sprang aus dem Sattel Ritter 
und Knecht, 
sie führten am Zügel die Rosse. io 
„Wer findet das Kleinod? Ich lohn' es 
ihm recht!" 
Der Kaiser schritt mit im Trosse. 
Noch dichter sank der Schnee im Hag 
und legte schimmernde Decken; 
er wob um Huf und Sporenschlag is 
und strickte in Silber die Hecken. 
Ein Falke pfiff, und die Dämmerung 
spann. 
Sie zogen verschneite Steige. 
„Herr Kaiser, es funkelt ein Licht im Tann, 
als hing' ein Stern im Gezweige!" 20 
Der Knappe rief's. Die Rosse stehn. 
Die silbernen Hörner blasen. 
Und wie sie dem Glanze nahegehn, 
da lag, wie im Frühling, ein Rasen. 
Wie Weihnachtsglocken klang ein Born; 35 
es stand eine Rose in Blüte. 
Da hing das goldene Kreuz am Dorn, 
als ob ein Stern erglühte.
	        
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