292
Das jüngste Deutschland.
8. Max Geißler.
Geb. 1868 in Großenhain im Königreich Sachsen. War zwölf Jahre lang an der Leitung
kleinerer und größerer Zeitungen beteiligt, ging dann mit Frau und Kind nach Italien
und war kurze Zeit Schullehrer in seiner Heimat, bis er endlich nach verzweifelter Not
rasch zu Anerkennung gelangte; lebt in Weimar.
Gedichte. Volksausgabe 1908.
1. Die alte Geige.
Ich hab' ein altes Saitenspiel
gespielt in alten Tagen.
War wohl des lachenden Glücks zu viel:
die Saiten sind zerschlagen;
5 hängt nun verloren an der Wand,
verlernte, das Glück zu loben;
hat auch der Staub mit grauer Hand
ein Decklein drüber gewoben.
Nur manchmal, wenn auf Schrein
und Truhn
io die Sonnenlichter lachen,
da wollen, die verträumt drin ruhn,
die alten Lieder erwachen;
da tönt's, als würde zu Spiel und Tanz
wie in jungen Tagen geworben —
i5 's ist ein verirrter Sonnenglanz:
sind alle, alle gestorben.
2. Sommersegen.
Im Grase stimmt
ihr Spiel die Grille.
Der Heuduft schwimmt
süß durch die Stille.
b Angustwind wellt
in weichem Streifen
das Korn. Im Feld
der Traum vom Reifen.
Und durch den Glanz,
io drin Lerchen klingen,
geht still ein Tanz
von Schmetterlingen.
Ein Segen streicht
sacht durchs Gelände;
i5 der kommt und reicht
mir seine Hände.
3. Abendlicht.
Das ist des Tages goldne Stunde,
die Rosen in mein Zimmer trägt
und lauscht, die Hand am Flüstermunde,
ob leiser nun die Standuhr schlägt,
ob von dem Glück der Erdenrunde 5
ein Schimmer an mein Fenster fällt;
das ist des Tages goldne Stunde,
die Lieder in den Händen hält.
4. Der Rosenstrauch zu
Hildesheim.
Sie ritten zu jagen das weiße Reh,
Kaiser Ludwig und seine Mannen.
Die Weihnacht kam, es fiel ein Schnee;
da schliefen Quell und Tannen.
Hallo! Hell riefen die Hörner im Holz. 5
Ward eine Rast erkoren?
„Das geweihte Kreuz war des Kaisers
Stolz —
das Kreuz hat der Kaiser verloren!"
Da sprang aus dem Sattel Ritter
und Knecht,
sie führten am Zügel die Rosse. io
„Wer findet das Kleinod? Ich lohn' es
ihm recht!"
Der Kaiser schritt mit im Trosse.
Noch dichter sank der Schnee im Hag
und legte schimmernde Decken;
er wob um Huf und Sporenschlag is
und strickte in Silber die Hecken.
Ein Falke pfiff, und die Dämmerung
spann.
Sie zogen verschneite Steige.
„Herr Kaiser, es funkelt ein Licht im Tann,
als hing' ein Stern im Gezweige!" 20
Der Knappe rief's. Die Rosse stehn.
Die silbernen Hörner blasen.
Und wie sie dem Glanze nahegehn,
da lag, wie im Frühling, ein Rasen.
Wie Weihnachtsglocken klang ein Born; 35
es stand eine Rose in Blüte.
Da hing das goldene Kreuz am Dorn,
als ob ein Stern erglühte.