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Begriff zu erhalten, findet seine Begründung darin, daß das Gesetz der Voll—
kommenheit als ein Ganzes und völlig Allgemeines dem Menschen nicht scharf
und bestimmt ins Bewußtsein tritt. Es Jleicht der Wurzel einer Pflanze.
Da sie in der Erde verborgen, so kann man sie in ihrer Form und Art nicht
deutlich erkennen und beschreiben. Ihre Existenz weiß man, denn man sieht,
was aus ihr emporgesproßt ist, Stamm, Zweige und Blätter. Nun, die Zweige
aus der gemeinsamen Wurzel des Gesetzes der Vollkommenheit sind die Ideen.
Wie man die einzelnen Zweige einer Pflanze sieht, die Wurzel aber nicht, aus
der sie hervorgetrieben, so wird der Mensch sich der einzelnen Ideen bewußt,
deren gemeinsame, geheimnisvoll verborgene Wurzel das Gesetz der Vollkommen—
heit in unserm Busen ist.
Als in den Zeiten der ersten Anfänge der Staatenbildung eine Anzahl
von Familien sich in gemeinsamem Wohnsitz vereinigten und nun die Freiheit
und das Glück des einen eine Beschränkung der Begierde des andern nötig
machte und erlangte, da war die Idee des Staates in den angehenden Bürgern
erwacht, d. h. die allgemeine Forderung der Vollkommenheit war in einer
bestimmten Richtung, der politischen, zutage getreten. Wenn ein vorher freies
Volk von einem despotischen Willen sich geknechtet sieht, da tritt das allgemeine
Gesetz der Vollkommenheit wieder nach einer andern Richtung hin wirksam
ins Bewußtsein; das Volk wird der Idee der Freiheit sich bewußt. Ideen
sind also heute allgemeine Vorstellungen des Vollkommenen, entsprungen aus
dem in der Menschenseele vorhandenen und wirkenden Gesetz der Vollkommenheit.
So ist die Idee der Tugend die Vorstellung des Vollkommenen auf sittlichem
Gebiet, die Idee der Frömmigkeit die Vorstellung von dem Vollkommenen im
Verhältnis des Menschen zu Gott; die allgemeine Vorstellung von der Voll—
kommenheit im Dasein des sinnlichen und zugleich vernünftigen Wesens, welches
Mensch heißt, nennen wir die Idee des Glücks; die Idee der Wahrheit ist
die Vorstellung des Vollkommenen im Verhältnis des Erkennens des Menschen
zum Sein der Dinge. Das Vollkommene in dem Verhältnis zwischen Materie
und Form oder Natur und Geist nennen wir das Schöne, und die Vorstellung
jenes Vollkommenen ist die Idee der Schönheit. Die Vorstellung von der
Vollkommenheit im Verhältnis zwischen des Menschen Lust und Pflicht, seinem
Wollen und Sollen, bezeichnen wir als die Idee der sittlichen Freiheit. Die
Idee der Unsterblichkeit ist nichts anderes als die Vorstellung von der Voll—
kommenheit des menschlichen Geistes schlechthin; die Vorstellung des Vollkommenen
im Verhältnis der Menschen eines Volkes zueinander oder des menschlichen
Zusammenlebens bezeichnet man als die Idee des Staas. Die Vorstellung
wiederum von der Vollkommenheit im Verhältnis des Bürgers zum Staat ist
die Idee der Vaterlandsliebe; die Vorstellung endlich einer absoluten Voll
kommenheit selbst ist die Idee Gottes.
Es schwebt nun wohl manchem die Einrede auf den Lippen: Wenn denn
doch die Idee die Vorstellung von etwas Vollkommenem ist und beispielshalber
bei Gründung des Staates die Idee des Staates wirksam war, wie war es
möglich, daß die damals entstehende Staatsform, die sogenannte patriarchalische,
von uns heute nicht für die vollkommene erachtet werden kann? Diese Einrede
ist auf eine Verwechselung von Idee und Ideal zurückzuführen, und es muß
nunmehr die Darstellung fortschrenen zur Klarlegung des Unterschiedes zwischen
der Idee und dem Ideal.“