August Wilhelm von Schlegel. (1767—1845.)
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30. August Wilhelm von Schlegel,
geboren den 5. September 1767 zu Hannover, studiert Philologie zu Güttingen, wird Hauslehrer in Amsterdam, tritt zu
Jena mit Schiller in Verbindung, wird Rat und Profesior, giebt das Athenäum (mit seinem Bruder) heraus, das viele
Kämpfe erregt, hält 1802 Vorlesungen in Berlin, reist 1806 mit Frau von Staël durch Italien, Frankreich, Deutschland.
Schweden, hält 1808 in Wien Vorlesungen über dramatische Kunst, geht 1800 nach Schweden, begleitet 1818 den damaligen
Kronprinzen von Schweden, wird geadelt, lebt dann am Genfer See in Toppet bei Frau von Staël, studiert nach deren
Tode (1817) zu Paris die indische Sprache und Literatur, wird 1818 Professor zu Bonn, wo er den 12. Mai 1845 stirbt.
Werke: I) Poesie: Romanzen, Elegieen, Lieder, Sonette. Jon, ein Trauerspiel. Übersetzung des Shakspeare,
9 Bände (1797—1810, später von Tieck beendigt), und einiger Stücke des Calderon. 2) Prosa: Vor¬
lesungen über Literatur und Kunst, über dramatische Kunst und Literatur, Kritiken und Rezensionen,
Aufsätze in der Indischen Bibliothek, Bonn 1819 ff. Gelehrte Ausgaben indischer Werke (Bhagavadgita.
Ramajana.) Abhandlungen in französischer Sprache. Sämtliche Werke, besorgt von Ed. Bücking.
12 Bde., Leipzig 1848 und 1847, Oeuvres écrites eu Fiançai», 3 Volumes, leipz. 1846. Opuscula latina»
bips. 1848.
Sibylle. *)
1. Einsam in der Felsenhöhle,
Tiefen Ernst in keuscher Seele,
Wohnte Phöbus' Priesterin.
Oft in stiller Nächte Hüllen
Nahte sich der Gott Sibyllen,
Zu erleuchten ihren Sinn,
2. Staunend fiel sie Vor ihm nieder,
Ihr erschauerten die Glieder,
Die der hohe Gast durchdrang.
Und sie öffnete die Lippen,
Und es schollen rings die Klippen
Von prophetischem Gesang.
3. Auf geweihte Palmenblätter
Grub sie dann den Spruch der Götter,
Vom Apoll ihr offenbart.
Vieler Menschen Söhne kamen,
Fragten, lasen und vernahmen,
Was der Zukunft Schoß bewahrt.
4. Aber öfters fuhr der Flügel
Eines Sturmwinds trotz dem Riegel
Ihrer Pforte durch die Gruft,
Ach, und riß die leichten Blätter
Ohne Schutz und ohne Retter
Sausend in die öde Luft.
5. Die Prophetin, unbekümmert
Um ihr Werk vom Sturm Zertrümmert,
Haschte keines je zurück.
Wer von ihr in bangen Nöten
Trost gehofft und Trost gebeten,
Fluchte dann auf sein Geschick.
6. Weisheit läßt nicht mit sich scherzen.
Menschen haltet fest im Herzen
Die Orakel der Vernunft!
Weh', wenn vor der Lüste Toben
Maß und Ordnung weggestoben!
Hoffet keine Wiederkunft!
Arion.1 2
1. Arion war der Töne Meister,
Die Cither lebt' in seiner Hand;
Damit ergötzt' er alle Geister,
Und gern empfing ihn jedes Land.
Er schiffte goldbeladen
Jetzt von Tarents Gestaden,
Zum schönen Hellas heimgewandt.
2. Zum Freunde zieht ihn sein Verlangen,
Ihn liebt der Herrscher von Korinth.
Eh' in die Fremd' er ausgegangen,
Bat der ihn, brüderlich gesinnt:
„Laß dir's in meinen Hallen
Doch ruhig wohl gefallen!
Viel kann verlieren, wer gewinnt."
3. Arion sprach: „Ein wandernd Leben
Gefällt der freien Dichterbrust.
Die Kunst, die mir ein Gott gegeben,
Sie sei auch vieler Tausend Lust.
An wohlerworbnen Gaben
Wie werd' ich einst mich laben,
Des weiten Ruhmes froh bewußt!"
4. Er steht im Schiff am zweiten Morgen,
Die Lüfte wehen lind und warm,
„O Periander, eitle Sorgen!
Vergiß sie nun in meinem Arm!
Wir wollen mit Geschenken
Die Götter reich bedenken
Und jubeln in der Gäste Schwarm."
5. Es bleiben Wind und See gewogen.
Auch nicht ein fernes Wölkchen graut;
Er hat nicht allzuviel den Wogen,
Den Menschen allzuviel vertraut.
Er hört die Schiffer flüstern.
Nach seinen Schätzen lüstern;
Doch bald umringen sie ihn laut.
6. „Du darfst, Arion, nicht mehr leben!
Begehrst du auf dem Land ein Grab,
So mußt du hier den Tod dir geben;
Sonst wirf dich in das Meer hinab!"
„So wollt ihr mich verderben?
Ihr mögt mein Gold erwerben,
Ich kaufe gern mein Blut euch ab."
1) Virg. Aen. III. 441—452. VI. 10. 48—80.
2) Herod. I. 23. 24. Ovid. II. 43. Lucian, Dia], mar. 8. Hygin. Poet. Astronom. II. 17. Melder
im Rhein. Mus. I. 3. S. 392-400.
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