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Ort und Zeit und Schöpfung durch alle Stücke. Lessing hat einige Um¬
stände Hamlets in Vergleichung der Theaterkönigin Semiramis entwickelt —
wie voll ist das ganze Drama dieses Lokalgeistes von Anfang zu Ende.
Schloßplatz und bittere Kälte, ablösende Wache und Nachterzählungen, Un¬
glaube und Glaube — der Stern und nun erscheint's! Kann jemand sein,
der nicht in jedem Wort und Umstande Bereitung und Natur ahne? So
weiter. Alles Kostüm der Geister erschöpft! der Menschen zur Erscheinung
erschöpft! Hahnkräh und Paukenschall, stummer Wink und der nahe Hügel,
Wort und Unwort — welches Lokal! welches tiefe Eingraben der Wahr¬
heit! Und wie der erschreckte König kniet und Hamlet vorbei irrt in seiner
Mutter Kammer sAnfz, III, 4] vor dem Bilde seines Vaters! und nun die
andere Erscheinung! Er am Grabe seiner Ophelia! der rührende good
Fellow in allen den Verbindungen mit Horazio, Ophelia, Laertes, Fortin-
bras! das Jugendspiel der Handlung, was durchs Stück fortläuft und fast
bis zu Ende keine Handlung wird — wer da einen Augenblick Brettergerüste
fühlt und sucht und eine Reihe gebundener artiger Gespräche auf ihm
sucht, für den hat Shakespeare und Sophokles, kein wahrer Dichter der
Welt gedichtet.
Eben da ist also Shakespeare Sophokles' Bruder, wo er ihm dem
Anschein nach so unähnlich ist, um im Innern ganz wie er zu sein. Da
alle Täuschung durch dies Urkundliche, Wahre, Schöpferische der Geschichte
erreicht wird, und ohne sie nicht bloß nicht erreicht würde, sondern kein
Element mehr (oder ich hätte umsonst geschrieben) von Shakespeares Drama
und dramatischem Geist bliebe, so sieht man, die ganze Welt ist zu diesem
großen Geiste allein Körper: alle Auftritte der Natur an diesem Körper
Glieder, wie alle Charaktere und Denkarten zu diesem Geiste Züge —
und das Ganze mag jener Riesengott des Spinoza „Pan! Universum!"
heißen. Sophokles blieb der Natur treu, da er eine Handlung eines Orts
und einer Zeit bearbeitete; Shakespeare konnt' ihr allein treu bleiben, wenn
er seine Weltbegebenheit und Menschenschicksal durch alle die Örter und
Zeiten wälzte, wo sie — nun, wo sie geschehen; und gnade Gott dem kurz¬
weiligen Franzosen, der in Shakespeares fünften Aufzug käme, um da die
Rührung in der Quintessenz herunterzuschlucken. Bei manchen französischen
Stücken mag dies wohl angehen, weil da alles nur fürs Theater versifiziert
und in Szenen schaugetragen wird; aber hier geht er eben ganz leer aus.
Da ist Weltbegebenheit schon vorbei; er sieht nur die letzte, schlechteste
Folge: Menschen wie Fliegen fallen, er geht hin und höhnt, Shakespeare
ist ihm Ärgernis und sein Drama die dümmste Torheit.
Überhaupt wäre der ganze Knäuel von Ort- und Zeitquästionen längst
aus seinem Gewirre gekommen, wenn ein philosophischer Kopf über das
Drama sich die Mühe hätte nehmen wollen auch hier zu fragen: „was