Full text: VII. Zeitraum: Von 1770 bis zu Goethes Tode (Teil 2)

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und Wohlthuns ruhte, auch die Abweichungen, welche bei Menschen 
von so beschränkten Zuständen vorkommen können, von geringer Be— 
deutung sind, und daher ihr Gewissen meistens rein und ihr Geist 
gewöhnlich heiter blieb: so entstand keine künstliche, sondern eine 
wahrhaft natürliche Kultur, die noch darin vor andern den Vorzug 
hatte, daß sie allen Altern und Ständen gemäß und ihrer Natur 
nach allgemein gesellig war; deshalb auch diese Personen, in ihrem 
Kreise, wirklich beredt und fähig waren, über alle Herzensangelegen— 
heiten, die zartesten und tüchtigsten, sich gehörig und gefällig aus— 
zudrücken. In demselben Falle nun war der gute Jung. Unter 
wenigen, wenn auch nicht gerade Gleichgesinnten, doch solchen, die 
sich seiner Denkweise nicht abgeneigt erklärten, fand man ihn nicht 
allein redselig, sondern beredt; besonders erzählte er seine Lebens— 
geschichte auf das anmutigste und wußte dem Zuhörer alle Zustände 
deutlich und lebendig zu vergegenwärtigen. Ich trieb ihn, solche 
aufzuschreiben, und er versprach's. Weil er aber in seiner 
Art, sich zu äußern, einem Nachtwandler glich, den man nicht an— 
rufen darf, wenn er nicht von seiner Höhe herabfallen, einem sanf— 
ten Strome, dem man nichts entgegenstellen darf, wenn er nicht 
brausen soll, so mußte er sich in größerer Gesellschaft oft unbehaglich 
fühlen. Sein Glaube duldete keinen Zweifel und seine Uberzeugung 
keinen Spott. Und wenn er in freundlicher Mitteilung unerschöpf— 
lich war, so stockte gleich alles bei ihm, wenn er Widerspruch erlitt. 
Ich half ihm in solchen Fällen gewöhnlich über, wofür er mich mit 
aufrichtiger Neigung belohnte. Da mir seine Sinnesweise nichts 
Fremdes war, und ich dieselbe vielmehr an meinen besten Freunden 
und Freundinnen schon genau hatte kennen lernen, sie mir auch in 
ihrer Natürlichkeit und Naivetät überhaupt wohl zusagte, so konnte 
er sich mit mir durchaus am besten finden. Die Richtung seines 
Geistes war mir angenehm, und seinen Wunderglauben, der ihm so 
wohl zu statten kam, ließ ich unangetastet. 
26. Die wandelnde Glocke. 
1813. 
Goethes Werke in 36 Bodn. Stuttgart, 1867. L. S. 158. 
1. Es war ein Kind, das wollte nie 
Zur Kirche sich bequemen, 
Und Sonntags fand es stets ein Wie, 
Den Weg ins Feld zu nehmen. 
2. Die Mutter sprach: „Die Glocke tönt, 
Und so ist dir's befohlen, 
Und hast du dich nicht hingewöhnt, 
Sie kommt und wird dich holen.“
	        
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