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Wie geht es aber den Leuten, welche nördlich vom nördlichen
Wendekreise, oder südlich vom südlichen Wendekreise wohnen?
Es geht ihnen ganz erträglich, wie wir ja an uns selber sehen, die
wir doch schon ziemlich weit vom nördlichen Wendekreise entfernt wohnen.
Die Sonne steht für uns am höchsten, wenn sie über dem nördlichen
Wendekreise steht, d. i. an unserem längsten Tage, und steht für uns
am niedrigsten, wenn sie über dem südlichen Wendekreise steht, d. i. an
unserem kürzesten Tage. Je weiter nun ein Ort vom Äquator ent¬
fernt, und je näher er einem der Leiden Pole liegt, desto niedriger
steht für ihn die Sonne sowohl am längsten, als am kürzesten Tage,
und wer gerade auf einem der beiden Polarkreise wohnt, der hat an
seinem kürzesten und an seinem längsten Tage ein merkwürdiges Schau¬
spiel. An dem kürzesten Tage geht die Sonne für den nördlichen Polar¬
kreis eigentlich gar nicht auf. Sie steht im südlichen Wendekreise und
ihre Strahlen reichen gerade nur bis an den nördlichen Polarkreis.
Wenn nun die Mittagszeit eintritt, so zeigt sich die Sonne am südlichen
Himmel nur auf einige Augenblicke; recht, als ob sie sagen wollte: ich
bin noch immer da, aber ich habe keine Zeit, lange bei euch zu ver¬
weilen. Das alles aber sucht sie am längsten Tage, wenn sie im
nördlichen Wendekreise steht, wieder einzubringen. Sie steigt am Himmel
nicht eben sehr hoch, etwas höher, als bis zur Mitte des Bogens, den
ihr vom Scheitelpunkte bis zum Horizont ziehen könnt; aber da¬
für geht sie auch den ganzen Tag nicht unter. Gegen Mitternacht senkt
sie sich gerade im Norden auf einen Augenblick bis zum Horizont hinab;
aber es ist, als ob es ihr leid werde, von uns zu gehen, und flugs
hebt sie sich wieder und durchläuft ihre Bahn von neuem. Von da ab
macht sie die Nächte für den nördlichen Polarkreis immer ein we^ig
länger, bis zuletzt die Nacht volle 24 Stunden lang wird und für den
Tag eigentlich gar nichts übrig bleibt.
Wie mag es nun erst den Leuten ergehen, die noch über den
Polarkreis hinaus wohnen? Das läßt sich leicht denken, wie es denen
ergehen muß. Je näher sie dem Nordpol wohnen, desto länger sind
im Winter ihre Nächte und im Sommer ihre Tage. Da giebt es
Gegenden, wo die Sonne mehrere Tage, Wochen und Monate lang
nicht aufgeht, ja wer gerade unter dem Pole wohnte, der hätte ein
halbes Jahr Tag und ein halbes Jahr Nacht; denn in der einen Hälfte
des Jahres ginge für ihn die Sonne nicht auf, in der zweiten nicht
unter. Aber unter den Polen wohnen, so viel wir wissen, keine Men¬
schen, auch ist noch kein Schiff, so oft man es auch versucht hat, bis zu
den Polen hindurch gedrungen. Die kühnen Seefahrer, die das Meer
in den Gegenden um den Nordpol untersucht haben, sind meist zwischen
ungeheure Eisberge gerathen und haben von Glück zu sagen gehabt,
wenn sie wohlbehalten wieder in ihre Heimath gekommen sind.
Das muß doch ein klägliches Leben sein, wenn man Wochen und
Monate lang die Sonne nicht sieht, sondern so lange Zeit in finsterer
Nacht sitzt.