Full text: Leseproben aus alt- und mittelhochdeutschen Dichtungen

132. Zufriedenheit. 
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Mittlerweile war's 5 Uhr geworden, und die Bäuerin dachte, es möge 
wohl Zeit sein, ihren Eheherru zu wecken, der, an Jahren seiner Frau weit 
voraus, sich morgens wohl ein Stündchen längeren Schlafes gönnen mochte. 
Doch sah sie beim ersten Blick ans das Bett, daß ihr Alter bereits erwacht 
war und mit stillen, klaren Angen und gefalteten Händen dalag; die weiß und 
blau gestreifte Nachtmütze lag vor ihm ans der Bettdecke, und ein Sonnenstrahl 
spielte ihm auf der hohen, kahlen Stirn. Sie machte sich still am Tische etwas 
zu schaffen. Da schaute der Alte auch schon mit freundlichem Blick nach ihr 
hin und sagte: „Mutter, hab' ich denn auch zu lange geschlafen? Die Sonne 
scheint ja schon so helle!" „Na, guten Morgen, Vater!" antwortete die 
Bäuerin; „es ist für dich noch zeitig genug! Im Hause ist alles gut im Gange, 
und das Brot haben wir eben in den Ofen geschoben. Du magst dich nun 
anziehen; ich gehe, dir den Kaffee zu holen." — An dem Blick, den der Alte 
ihr nachsandte, und an der Fürsorglichkeit, womit die Frau ihm sein Frühstück 
bereitete, sah man's, daß die beiden in Lieb und Treue einander eigen waren 
und trotz der Verschiedenheit der Jahre in einem glückseligen und gottgefälligen 
Ehestände zusammen lebten. Der Alte war freilich sehr einsilbig, sehr trocken; 
er konnte wohl stundenlang abends im tiefsten Schweigen hinterm Ofen sitzen, 
ohne ein anderes Lebenszeichen, als die mächtigen Rauchwolken, die seiner Pfeife 
entstiegen. Aus seiner Ruhe brachte ihn auch nichts, denn er hatte eine Art 
an sich, daß keiner seinem Wort und Willen auch nur zu widersprechen gewagt 
hätte. Dabei war er so schlicht und einfach, daß er ernstlich protestiert hatte, 
als er zum ersten Mal ein seidenes Halstuch anlegen sollte, und hatte doch 
Hunderte, ja Tausende von Thalern auf Zinsen. Ins Wirtshaus ging er nie, 
am Sonntagnachmittag vielleicht einmal zu einem Verwandten oder Nachbarn; 
ins Gotteshaus an jedem zweiten Sonntag; im Frühling und Herbst zum 
heiligen Abendmahl. Manche nannten ihn geizig; doch hätte dieser und jener 
arme Tagelöhner dagegen Zeugnis ablegen können, dem er in der Zeit der 
Not hier ein Sümmchen und da wieder ein Sümmchen geliehen hatte, ohne 
Zins dafür zu verlangen, und der weit ausgebreiteten Wohlthätigkeit seiner 
Frau setzte er keine Schranken, auch hatte er eigenhändig in seiner Bibel das 
Wort unterstrichen: „Wer Almosen giebt, der leihet Gott." Manche nannten 
ihn rechthaberisch und eigensinnig, denn was er einmal für recht erkannte, 
davon brachte keine Vorstellung, keine noch so schlaue Überredung ihn ab; es 
war aber auch meist das Rechte. Seine Frau aber, die er geheiratet hatte, 
als er schon über vierzig war, während sie noch in den zwanzigen stand, trug 
er auf Herz und Händen, obgleich man so äußerlich nicht viel davon merkte. 
132. Zufriedenheit. 
1. frag' ich viel nach Geld unb Gut, 
wenn ich zufrieden bin! 
Giebt Gatt mir nur gesundes Blut, 
so hab' ich frohen Sinn 
und sing' aus dankbarem Gemüt 
mein Morgen- und mein Abendlied. 
2. So mancher schwimmt im Überfluß, 
nie schweigen seine Klagen still. 
und ist doch immer voll Verdruß 
und freut sich nicht der Welt. 
Je mehr er hat, je mehr er will; 
hat Haus und Hof und Geld,
	        
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