56 
II. Aus dem Menschenleben. 
zusammengefaltet dalag und gab es dem Boten zu lesen: Es war eine 
Schenkungsurkunde über ein prächtiges Schloß mit allem Zubehör. Das 
hätte der Täufling haben sollen; aber nun zerriß der Bischof den 
Schenkungsbrief und aus dem Schlosse machte er ein Krankenhaus. Da 
hatte man sich wünschen mögen, krank zu werden, um auch in die hohen, 
schönen Zimmer zu kommen und in eins von den breiten Himmelbetten 
drin. Und er nannte das Schloß das Juliusspital: so heißt es noch 
heute und besteht schon mehr als dreihundert Jahre. Wie viel tausend 
arme Kranke es in all dieser Zeit beherbergt hat, das weiß niemand 
zu sagen; des Bischofs Name aber ist im Segen geblieben. 
Karl Hessel. Musterproben.) 
73. Die Wüöe. 
Es waren einmal zwei Brüder, die dienten beide als Soldaten; 
der eine war reich, der andere arm. Da wollte der arme sich aus der 
Not helfen, zog den Soldatenrock aus und ward ein Bauer. Also grub 
und hackte er sein Stückchen Acker und säte Rübsamen. Der Same ging aus, 
und es wuchs da eine Rübe, die ward groß und stark und zusehends dicker 
und wollte gar nicht aufhören zu wachsen, so daß sie eine Fürstin aller 
Rüben heißen konnte; denn nimmer war so eine gesehen worden und 
wird auch nimmer wieder so eine gesehen werden. Zuletzt war sie so 
groß, daß sie allein einen ganzen Wagen anfüllte und zwei Ochsen daran 
ziehen mußten, und der Bauer wußte nicht, was er damit ansangen 
sollte, und ob's sein Glück oder sein Unglück wäre. Endlich dachte er: 
Verkaufst du sie, was wirst du Großes dafür bekommen? Und willst du 
sie selber essen, so tun die kleinen Rüben denselben Dienst; am besten 
ist, du bringst sie dem König und machst ihm eine Verehrung damit. 
Also lud er die Rübe auf den Wagen, spannte zwei Ochsen vor, brachte 
sie an den Hof und schenkte sie dem Könige. „Was ist das für ein seltsam 
Ding?" sagte der König; mir ist viel Wunderliches vor die Augen ge¬ 
kommen, aber so ein Ungetüm noch nicht; aus was für Samen mag 
die gewachsen sein? Oder dir gerät's allein, und du bist ein Glückskind." 
„Ach, nein," sagte der Bauer, „ein Glückskind bin ich nicht; ich bin 
ein armer Soldat, der, weil er sich nicht mehr nähren konnte, den Soldaten¬ 
rock an den Nagel hängte und das Land baute. Ich habe noch einen 
Bruder, der ist reich und Euch, Herr König, auch wohlbekannt; ich aber, 
weil ich nichts habe, bin von aller Welt vergessen." Da empfand der 
König Mitleid mit ihm und sprach: „Deiner Armut sollst du überhoben 
und so von mir beschenkt werden, daß du wohl deinem reichen Bruder 
gleichkommst." Da schenkte er ihm eine Menge Gold, Äcker, Wiesen 
und Herden und machte ihn steinreich, so daß des andern Bruders 
Reichtum gar nicht damit verglichen werden konnte.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.