106 
„aber neulich in der Nacht, als das Gewitter kam, da habe ich ihn gesehen, 
wie er auf seinem feurigen Wagen durch die Wolken fuhr und seinen Hammer 
schleuderte, daß es blitzte und donnerte. Und ich habe es selbst gesehen: 
in jener Nacht ist er hier in seine heilige Eiche gefahren." Und sie zeigte 
die Stelle, wo der Blitz am Stamme herabgesaust war und die Rinde ge¬ 
schwärzt und zersplittert hatte. Da bat der Knabe: „Erzähle mir noch 
einmal die Geschichte vom Donnergott, die du mir neulich erzähltest, als 
du bei uns warst und den Zauberspruch über dem kranken Auge der Mutter 
betetest!" Winfried setzte sich auf den Opferstein und die Waldfrau auf 
einen der vielen Sitze, die zur Opferfeier dastanden, und begann: 
3. „Als der Sommer vorbei war, legte sich der Donnergott nieder 
und schlief, und sein Hammer lag neben ihm. Da kam ein Riese und stahl 
den Hammer. Wie nun der Sommer wieder kam, wurde der Donnergott 
wach; er trieb die Böcke heim von der Weide und spannte sie vor den 
Wagen, um durch die Wolken zu fahren; denn ein Gewitter stand kohl¬ 
schwarz am Himmel. Dann suchte er nach seinem Hammer, aber ver¬ 
gebens. Da sprach er zum Blitz: „Höre, dir allein will ich's sagen: Man 
hat mir meinen Hammer gestohlen." Der Blitz ging zu Freia, Wotans 
Frau; die hat ein Federhemd aus Wolken, und wer es anzieht, der kann 
damit fliegen wie ein Vogel. Der Blitz erzählte Freia das Unglück und 
sprach: „Den Hammer hat niemand als der Riese. Leihe mir dein Feder¬ 
hemd; denn der Weg ins Land der Riesen ist weit." Freia gab ihm das 
Hemd; der Blitz schlüpfte hinein, schlug mit den Flügeln und flog wie 
ein Vogel ins Land der Riesen. Der Riese saß vor seinem Hause, kämmte 
den Rossen die Mähnen und band seinen Jagdhunden goldne Bänder um 
den Hals. ,,Wie gehLs den Göttern? Warum kommst du so allein zu 
mir?" fragte er. Der Blitz antwortete: „Hast du vielleicht den Hammer 
des Donnergottes?" Da lachte der Riese: ,,Der ist gut aufgehoben, acht 
Klafter tief in der Erde. Dort bekommt ihn keiner, der mir nicht Freia 
als Braut bringt." 
4. Da flog der Blitz heim und sprach zum Donnergott: „Der Riese 
hat den Hammer; aber er gibt ihn nicht her, wenn er nicht Freia zur 
Frau bekommt." Sie gingen zur Freia und der Blitz sagte: „Jetzt, Freia, 
kleide dich schnell als Braut an! Wir reisen mitsammen ins Land der 
Riesen." Da antwortete Freia: „Ihr haltet mich wohl beide für eine 
Närrin? Ist nicht Wotan mein Ehegemahl?" Da riefen sie die Götter 
zusammen, und alle versammelten sich in Walhall um Wotan, der nur 
ein einziges Auge hat. Er saß mit seinem blauen Mantel am Herde; 
zwei Raben standen auf seiner Schulter, und zwei zahme Wölfe lagen zu 
seinen Füßen. Wie sie nun vom Eber aßen und Bier und Met tranken, 
da sagte einer der Götter: ,,Wir ziehen dem Donnergott Freias schönste 
Kleider an und schicken ihn so dem Niesen als Braut. Das ist mein Rat."
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.