Full text: Die vorchristliche Zeit (Theil 1)

123 
Mehrmals kämpfte Sokrates für sein Vaterland und sein Name ward 
unter den Tapfersten genannt, aber bescheiden leistete er Verzicht auf die 
öffentliche Anerkennung seiner Verdienste. Durch seine Unerschrockenheit 
rettete er in einer Schlacht dem Alcibiades das Leben. Der kühne Jüng¬ 
ling war schon verwundet niedergesunken; da eilte Sokrates herzu, deckte 
ihn mit seinem Schilde und entzog ihn glücklich der Gefahr. 
Eben so unerschrocken war er auch im bürgerlichen Leben, und weil 
er die Gottheit fürchtete, kannte er keine Menschenfurcht. Als die Athener 
bei Lesbos einen Sieg über die Flotte der Lacedämonier gewonnen hatten, 
waren zwei von den zehn Befehlshabern beauftragt worden, die während 
des Gefechtes schiffbrüchig Gewordenen zu retten und die Leichname der 
Gebliebenen in Sicherheit zu bringen. Die stürmische Witterung hatte 
dies aber unmöglich gemacht. Darüber zogen die wankelmüthigen Athener 
sämmtliche Zehn zur Verantwortung vor Gericht und in der Leidenschaft 
verlangte man, Alle auf Einmal zu verurtheileu. Sokrates aber, der au 
diesem Tage gerade Vorsitzender der richterlichen Versammlung war, wider¬ 
setzte sich standhaft jenem Vorhaben, weil es wider das Gesetz sei, Jeman¬ 
den ohne Verhör zu verdammen. Das Volk tobte, viele der Mächtigen 
droheten, aber Sokrates blieb fest, ließ sich nicht einschüchtern vom Geschrei 
des Volkes und dem Zorn der Vornehmen und sein Wille drang durch. 
Denn er war des Glaubens, daß die Götter Alles wüßten, was man 
redete oder handelte, ja auch was das Herz dächte. 
2. Lehrweise. 
Sokrates bildete nicht, wie die Philosophen nach ihm, eine abgeson¬ 
derte Schule oder einen geschlossenen Kreis von Jüngern, sondern suchte 
vielmehr allen seinen Mitbürgern durch gelegentliche Unterredungen zu 
nützen. Als ein echter Bürgerfreund und leutseliger Mann verkehrte er 
mit den verschiedensten Menschen aus allen Ständen von jederlei Alter 
und Gewerbe, und, wie Einer unserer Dichter von Jesu sagt, daß er durch 
Gleichniß und Exempel jeden Markt zum Tempel gemacht, so wurde oft¬ 
mals durch Sokrates die Werkstatt eines Riemers oder Panzermachers 
zu einer Akademie und Schule der Weisheit. Man konnte ihn den grö߬ 
ten Theil des Tages au öffentlichen Orten finden. Frühmorgens besuchte 
er die Hallen und Gymnasien, wo die athenische Jugend Leibesübungen 
trieb, auch viele Erwachsene sich einfanden, um sich über Dies und Jenes 
zu besprechen. Nach der dritten Stunde (9 Uhr Vormittags) war er auf 
dem Markte und die übrige Zeit des Tages da, wo er die meisten Leute 
vermuthete. Dabei sprach er mehrentheils und wer Lust hatte, konnte ihm 
zuhören. „Menschen zu saugen"*), wie er selber sagte, war bei diesem 
scheinbaren Müßiggänge sein Zweck. Und darauf verstand er sich trefflich. 
Sokrates wünschte den Tenophon, einen schönen Jüngling von vor¬ 
*) Matth. 4, 19: Folget mir nach, ich will euch zu Menschenfischern machen.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.