LV. In Feld und Wald.
3. Wie sie ausgeschnattert hat, fragt Goldtöchterchen: „Sag' einmal,
Ente, wo hast du denn die vielen kleinen Kanarienvögel her 2
„Kanarienvögel?“ wiederholt die Ente, „ich bitte dich, es sind ja bloß
meine Jungen.“
„Aber sie singen ja so fein und haben keine Federn, sondern bloß Haare!
Was bekommen denn deine kleinen Kanarienvögel zu essen?“
„Die trinken klares Wasser und essen feinen Sand.“
„Davon können sie ja aber unmöglich wachsen.“
„Doch, doch,“ sagt die Ente; „der liebe Gott segnet's ihnen, und dann
ist auch zuweilen im Sand ein Würzelchen und im Wasser ein Wurm oder
eine Schnecke.“
„Habt ihr denn keine Brücke?“ fragt. dann weiter Goldtöchterchen.
„Nein,“ sagt die Ente, „eine Brücke haben wir nun allerdings leider
nicht. Wenn du aber über den Teich willst, will ich dich gern hinüberfahren.“
Darauf geht die Ente ins Wasser, bricht ein großes Wasserrosenblatt
ab, setzt Goldtöchterchen darauf, nimmt den langen Stengel in den Schnabel
und fährt Goldtöchterchen hinüber. Und die kleinen Entchen schwimmen munter
nebenher.
„Schönen Dank, Ente!“ sagt Goldtöchterchen, als es drüben angekommen ist.
„Keine Ursache,“ sagt die Ente. „Wenn du mich 'mal wieder brauchst,
steh' ich gern zu Diensten. Empfiehl mich deinen Eltern. Schön adje!“
4. Auf der andern Seite des Teiches ist wieder eine große grüne Wiese,
auf der geht Goldtöchterchen weiter spazieren. Nicht lange, so sieht es einen
Storch, auf den läuft's gerade zu. „Guten Morgen, Storch,“ sagt's; „was
ißt du denn, was so grünscheckig aussieht und dabei quakt?“
„Zappelsalat,“ antwortet der Storch, „Zappelsalat, Goldtöchterchen!“
„Gieb mir auch etwas, ich bin hungrig!“
„Zappelsalat ist nichts für dich,“ sagt der Storch, geht an den Bach,
taucht mit seinem langen Schnabel tief unter und holt erst einen goldenen
Becher mit Milch und dann eine Wecke heraus. Darauf hebt er den einen
Flügel und läßt eine Zuckertüte herunterfallen. Goldtöchterchen läßt sich's
nicht zweimal sagen, sondern setzt sich hin und ißt und trinkt. Wie's satt ist,
agt's:
„Einen schönen Dank
und gute Gesundheit dein Leben lang!“
5. Darauf läuft's weiter. Nicht lange, so kommt ein kleiner blauer
Schmetterling geflogen. „Kleines Blaues,“ sagt Goldtöchterchen, „wollen wir
uns ein wenig haschen?“ „Ich bin's zufrieden,“ antwortet der Schmetterling;
„aber du darfst mich nicht angreifen, damit nichts abgeht.“
Nun haschen sie sich lustig auf der Wiese herum, bis es Abend wird.
Wie es anfängt zu dämmern, setzt sich Goldtöchterchen hin und denkt: „Jetzt
willst du dich ausruhen; dann gehst du nach Hause.“ Wie's so sitzt, merkl's,
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IV. In Feld und Wald. 57
oder zwei Wassertropfen wie Glasperlen. Plötzlich Kam der Sonnen-
schein, und alle Perlen fingen an zu funkeln. Ich sah Gelb, Grün, Rot,
Blau und noch mehr Farben, und doch war es Klaress Wasser. Mutter
sagte, es wäre Tau. Ich wollte einen bunten Dropfen auf den Finger
nehmen, aber da waren die bunten Farben fort. — Gestern ging ich
wieder über das Gras. Da war es noch sonderbarer. Es sah aus, wie
mit Zucker bestreut. Ich pflückte einen Grashalm. Lauter weilse,
glitzernde Körnehen sassen darauf. Sie zerschmolzen zwischen meinen
warmen Fingern. „Das ist Reif.“ sagte meine Mutter. Ise Erapan.
87. Die Ernte.
1. O seht das fröhliche Leben auf dem Felde! — Der Landmann hat
zwar schwere Arbeit; aber er streicht sich den Schweiß aus dem Gesichte, blickt
heiter und singt ein munteres Lied. Hei! wie die blanken Sensen rauschen
und die langen, schweren Halme zu Boden sinken! — Der eine Schnitter da
streicht seine Sense; denn sie muß scharf sein, wenn sie viele Halme auf einen
Hieb durchschneiden soll.
2. Das Roggenfeld ist bald abgemäht; es steht nur noch eine kleine
Ecke. Da hinein hat sich das Häschen verborgen. Jetzt springt es heraus.
Seht nur, wie schnell es laufen kann! — Den Mähern folgen fleißige Mägde,
die das in Reihen liegende Getreide aufnehmen und zu Garben binden. Die
Garben werden dann in Haufen zusammengestellt, die der Landmann Hocken
nennt.
3. Auf dem Felde daneben haben die Schnitter ihre Arbeit schon beendet.
Der Erntewagen steht hoch beladen auf dem Acker. Noch eine Garbe und
noch eine wird hinaufgegeben; jetzt istss genug. Nun wird ein glatter, runder
Baumstamm, der Windelbaum, der Länge nach auf das volle Fuder gelegt
und mit Stricken vorne und hinten befestigt. Er soll das Korn fest zusammen⸗
drücken, daß die Garben beim Fahren nicht herabspringen können. Dann
läßt der Knecht die Peitsche knallen, und nun ziehen die Pferde das schwere
Fuder mühsam über den lockern Boden des Feldes, bis sie auf den Weg
kommen, wo es leichter geht.
4. Bald schwankt der Wagen durch das weite Thor in den Hof und in
die geöffnete Scheune. Da giebt es Arbeit für den Winter. Denn wenn der
Schnee die Felder deckt, so geht es in den Scheunen: klipp klapp klipp! klipp
klapp klipp! Die Drescher schlagen mit schweren Flegeln die Körner aus den
Ähren, und ganze Säcke voll Korn wandern auf den Getreideboden und dann
nach der Mühle oder auf den Markt. Nach Ernst Lausch.