136 4. Per. 2. Zeitr. Gotthold Ephraim Lessing.
Schönheit, das höchste Gesetz der bildenden Künste.
(Aus Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie.)
Bei den Alten ist die Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Künste
gewesen.
Und dieses festgesetzt, folgt notwendig, daß alles andere, worauf sich die
bildenden Künste zugleich mit erstrecken können, wenn es sich mit der Schön¬
heit nicht verträgt, ihr gänzlich weichen und, wenn es sich mit ihr verträgt,
ihr wenigstens untergeordnet sein müsse.
Ich will bei dem Ausdrucke stehen bleiben. Es giebt Leidenschaften und
Grade von Leidenschaften, die sich in dem Gesichte durch die häßlichsten Ver¬
zerrungen äußern und den ganzen Körper in so gewaltige Stellungen setzen,
daß alle die schönen Linien, die ihn in einem ruhigern Stande umschreiben,
verloren gehen. Dieser enthielten sich also die alten Künstler entweder ganz
und gar, oder setzten sie auf geringere Grade herunter, in welchen sie eines
Maßes von Schönheit fähig sind.
Wut und Verzweiflung schändete keines von ihren Werken. Ich darf
behaupten, daß sie nie eine Furie gebildet haben.
Jammer ward in Betrübnis gemildert. Und wo diese Milderung nicht
stattfinden konnte, wo der Jammer ebenso verkleinernd als entstellend gewesen
wäre, — was that da Timanthes? Sein Gemälde von der Opferung
der Iphigenia, in welchem er allen Umstehenden den ihnen eigentümlich zu¬
kommenden Grad der Traurigkeit erteilte, das Gesicht des Vaters aber, welches
den allerhöchsten hätte zeigen sollen, verhüllete, ist bekannt; und es sind viele
artige Dinge darüber gesagt worden. Er hatte sich, sagt dieser (Plinius 35,
36), in den traurigen Physiognomien so erschöpft, daß er dem Vater eine noch
traurigere geben zu können verzweifelte. Er bekannte dadurch, sagt jener
(Valerius Maximus 8, 11), daß der Schmerz eines Vaters bei dergleichen
Vorfällen über allen Ausdruck sei. Ich für meinen Teil sehe hier weder die
Unvermögenheit des Künstlers, noch die Unvermögenheit der Kunst. Mit dem
Grade des Affekts verstärken sich auch die ihm entsprechenden Züge des Ge¬
sichts; der höchste Grad hat die allerentschiedensten Züge, und nichts ist der
Kunst leichter, als diese auszudrücken. Aber Timanthes kannte die Gren¬
zen, welche die Grazien seiner Kunst setzen. Er wußte, daß sich der Jammer,
welcher dem Agamemnon als Vater zukam, durch Verzerrungen äußert, die
allezeit häßlich sind. So weit sich Schönheit und Würde mit dem Ausdrucke
verbinden ließ, so weit trieb er ihn. Das Häßliche wäre er gern übergangen,
hätte er gern gelindert. Aber da ihm seine Komposition beides nicht erlaubte,
was blieb ihm anders übrig, als es zu verhüllen? — Was er nicht malen
durfte, ließ er erraten. Kurz, diese Verhüllung ist ein Opfer, das der Künst¬
ler der Schönheit brachte. Sie ist ein Beispiel, nicht wie man den Ausdruck
über die Schranken der Kunst treiben, sondern wie man ihn dem ersten Gesetze
der Kunst, dem Gesetze der Schönheit, unterwerfen soll.
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