Full text: Deutsches Lesebuch (Theil 2)

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ließe. Gegen Mittag hörte ich kein Geräusch mehr, und da 
ich einen heftigenHunger fühlte, verließ ich meinen Zufluchts- 
srt, ungewiß, was aus mir werden wurde. Ich kam in ein 
Dorf, wo ich einige Nahrungsmittel- erhielt, und, da ich schon 
vorher gewöhnt war, halbe und ganze Tage allein umher zu 
laufen tmd zu betteln, sehte ick meinen Weg auf diese Weise 
fort, und kam endlich an die Thür meines jetzigen Pflege¬ 
vaters. Ich hatte den ganzen Tag nichts genossen; der Re¬ 
gen hatte mich bis auf die Haut durchnässt, und die Nacht 
brach ein. Ich klopfte also an die Thür, und bat mir 
kläglicher Stimme um ein Bissen Brot. Als ich dies zwei- 
inal wiederholt hatte, öffnete der alte Mann Vas Fenster, 
und da er mich in so traurigen Umständen sah, schloß er 
mir die Thür auf, und ließ mich ein. Hier gab er mir zu 
essen und 311 trinken, reichte mir ein trocknes Wamms, und 
erlaubte mir eine Schlafstätte auf dem Heu zu suchen. Ich 
glaube, daß ich nie so froh gewesen bin, als in dieser Nacht, 
da ich auf meinem trocknen Lager das Klatschen des Regens 
und das Stürmen des Windes hörte. Am andern Morgen 
stand die Sonne schon am Himmel, und ich wollte weiter 
gehen, nachdem ich meinem guten Wirthe tausendmal für 
seine Wohlthaten gedankt hatte. Ich hatte die Thür schon 
in der Hand, als er mich zurückrief, und mir sagte, daß ich 
warten sollte. Dann besann er sich ein Weilchen und sagte: Höre, 
Junge, wenn ich wüßte, daß du treu und ehrlich wärest, so 
wollte ich dich bei mir behalten, und dir Nahrung und Klei¬ 
der geben. Ich versprach Alles, und blieb da. Er hat mir 
nachher gesagt, er hatte mich lieb gewonnen, weil ich seinem 
verstorbenen Gottfried ähnlich säh', und da ich zur Thür 
hätte hinaus gehen wollen, war' es ihm gewesen, als ob 
eine Stimme ihm zugerufen: Sich, Alter, hier hast du dei¬ 
nen Gottfried wieder." 
Der Knabe erzählte hierauf noch viel, wie väterlich ihn 
sein Herr gehalten, wie er ihn zur Schule geschickt, und in 
seiner Handthierung unterrichtet habe. Seine Dankbarkeit 
äußerte sich auf die natürlichste und herzlichste Weise. Er 
müße freilich jetzt fast Alles allein thun, sagte er, weil der 
alte Mann so schwach- und kraftlos wäre, daß er das Haus 
selten verlassen könne. So kann ich ihm, setzte er hinzu, 
doch einigermaßen vergelten, was er an mir gethan hat. 
Die beiden Kinder brachten diese Geschichte ihrem Va¬ 
ter mit nach Hause, der sie mit großer Aufmerksamkeit an¬
	        
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