Full text: Deutsches Lesebuch für das mittlere Kindesalter beider Konfessionen

180. Liebeswerke und Liebesgaben. 
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Bataillon vom thüringischen Infanterieregiment Nr. 96 schlug sein Lager 
in der Kirche auf. Die Mannschaft lagerte im Schiffe, wir Offiziere in 
der Sakristei. Die todmüden Krieger streckten sich zum Schlummer aus, 
schon als die Abenddämmerung die hohen Kirchenfenster umschleierte. 
VNur einzelnes Flüstern belebte noch hier und da den heiligen Raum. 
Die Weihe der Dämmerung ergriff die Herzen und lenkte die Sehnsucht 
zu den Lieben und zur Heimat. Und doch verscheuchte die Erinnerung 
an den blutigen Sieg, die Wehmut über die gefallenen und verwundeten 
Genossen und wieder das stolze Bewußtsein, zum Heil und Ruhm des 
Vaterlandes mitgefochten zu haben, uns den Schlaf aus den Augen. 
Da erklang in der Stille der Dämmerung erst leise, dann immer 
kräftiger anschwellend, auf der Orgel die Melodie des Liedes: „Nun 
danket alle Gott!“ Wie aus einer Brust stimmten alle, Offiziere und 
Soldaten, in den heiligen Gesang ein. Und als das Spiel zu Ende 
war, trat der Orgelspieler hervor und hielt uns eine kurze, aber zu 
Herzen gehende Ansprache, die er mit einem Gebet für das große einige 
Vaterland schloß. Und abermals zur Orgel sich wendend, stimmte er 
zum Schluß das alte protestantische Lied an: „Ein' feste Burg ist unser 
Gott!“ Allen, allen war nun wohl im Gemüt; alle dankten dem 
braven Sänger und Redner. Es war ein thüringischer Lehrer, der als 
Soldat in der elften Compagnie stand; ihm dankte ein ganzes 
Bataillon diesen herrlichen Abendsegen. 
180. (183.) Liebeswerke und Liebesgaben. 
Noch ehe die deutschen Krieger 1870 auszogen, regten sich überall 
im ganzen Lande die Hände in den Palästen und in den Hülten der 
Armen, um die Wunden zu lindern und zu heilen, welche jeder Krieg 
schlägt. Frauen und Kinder strickten Strümpfe, zupften Charpie, nähten 
Binden und warme Kleidungsstücke. Jünglinge und Männer, die nicht 
fähig waren, Waffen zu tragen, zogen als Krankenpfleger in das Feld 
oder halfen daheim, daß die Verwundeten gepflegt, die Witwen und 
Waisen unterstützt und die Frauen und Kinder, deren Ernährer mit 
ausgezogen waren, nicht Not und Mangel litten. Viele tausende von 
Thalern wurden dafür zusammengesteuert und ganze Eisenbahnzüge mit 
Gaben der Liebe gefüllt, welche den Brüdern in Feindesland zugeführt 
wurden. So zeigte sich, wie die Herzen und Hände des ganzen Volkes in 
der Heimat thätig waren, um den Kriegern Hilfe und Linderung zu schaffen. 
Wie schon in dem Kriege 1866, so haben die Johanniter und 
Malteser, evangelische Vereine und katholische Orden gewetteifert, um 
auf den Schlachtfeldern und in den Lazaretten die Verwundeten zu 
pflegen. Da hörte aller Unterschied im Glauben, in der Abstammung 
und in der Nationalität auf. Die Nonnen und Mönche haben die 
kranken Protestanten, Juden und Muhamedaner mit derselben Fürsorge 
gewartet, wie ihre eigenen Glaubensgenossen, und die evangelischen 
Krankenpfleger und Pflegerinnen sind darin nicht zurückgeblieben. 
Sesebuch der rüder Seltzsam. 11. 17
	        
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