Full text: Deutsches Lesebuch für die Oberstufe mehrklassiger Schulen

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noch im warmen Bette behaglich dehnte, und bat,, sie möge ihnen doch 
heute wenigstens Schuhe erlauben. Aber mit harten Worten schlug das 
böse Weib ihr Begehren ab. So wanderten die beiden armen Frauen bar¬ 
fuß durch den Schnee an den Strand und begannen, vor Kälte zitternd, 
zu waschen. Lange harrten sie vergeblich der verheißenen Boten. 
Nach dcm Volksbuche. 
8. N)ie Ortwein und Herwig zu ihnen kamen. 
Fünfundzwanzigstes Abenteuer. 
1. Nach langem Harr'n und Warten, da sahn sie auf dem Meer 
Zwei in einer Barke und anders niemand mehr. 
Da sprach Frau Hildeburg zu Gudrun der reichen: 
„Tort sch ich zweie schwimmen: deinen Boten scheinen die zu gleichen." 
2. Da sprach die Iammersreiche: „O weh ich arme Maid; 
Jammer schafft mir alles, die Freude wie das Leid. 
Sind es Hildens Boten, sollen die mich finden 
Waschen auf dcm Griese, die Schande könnt' ich nimmer überwinden. 
3. „Ich arme Gottvcrlaßne, ich weiß nicht, was ich thu: 
Traut Gespiel, Hildeburg, gib deinen Rath dazu. 
Soll ich von hinnen weichen oder mich hier finden 
Lassen in der Schande? Lieber hieß ich immer Ingesinde." 
4. Da sprach Frau Hildeburg: Ihr seht wohl, wie cs steht: 
In so hohen Dingen fragt nicht, was Hildburg räth. 
Ich leiste mit euch gerne alles, was ihr thut: 
Ich will bei euch verbleiben, cs ergeh' euch übel oder gut." 
5. Da wandten sie sich beide und giengcn eilends fort: 
Doch waren schon so nahe die Männer jenem Ort, 
Daß sie die Wäscherinnen sahen an dein Strande; 
Da wurden sie wohl inne, daß sie wollten fliehn von den Gewänden. 
6. Sie sprangen aus der Barke und riefen ihnen nach: 
„Ihr schönen Wäscherinnen, warum ist euch so jach? 
Wir sind fremde Leute, das mögt ihr an uns spüren; 
Scheidet ihr von hinnen, die reichen Kleider werdet ihr verlieren." 
7.. Sie stellten sich, als hätten sie nichts davon vernommen, 
Obwohl zu ihren Ohren die Stimme war gekommen; 
Zu laut gesprochen hatte Herwig der König. ■ 
Daß er seiner Trauten so nah wär', deß versah der Held sich wenig. 
8. Da sprach der Held von Seeland: „Ihr Mädchen minniglich, 
Wem gehören diese Kleider? deß bcschcidet mich. \ 
Hört ohne Falsch uns bitten: zu Ehre» allen Maiden, 
Ihr minniglicheu Frauen, sollt ihr nicht von dem Gestade scheiden." 
9. Da sprach die edle Gudrun: „Ich deuchte mich geschmäht, 
Da ich ein Mädchen heiße, und ihr mich habt gefleht 
Bei aller Mädchen Ehre, wenn ich euch bitten ließe", 
So sprach zu ihm die hehre: „drum müssen meine Augen überfließen." 
10. Sie giengen in den Hemden; die waren naß zu schaun; 
Besser einst gekleidet sah' man die edeln Frau'n.
	        
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