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Nahen des Herbstes, und am Ende sehen wir ihn da; aber wir wissen
nicht, wann er gekommen und wann der Sommer gegangen ist.
Die letzten Stunden, die wir noch mit dem scheidenden Freunde ver¬
leben, sind heilige Weihestunden. Wir haben uns noch so viel zu sagen,
und doch sitzen wir minutenlang neben ihm ohne Worte, als wären wir
nun fertig und sähen fast bereitwillig dem Augenblicke des Scheidens ent¬
gegen. Da fällt uns eben ein, daß er ja nun bald nicht mehr da sein
und kein Mensch ihn wieder zurückrufen wird, und wir greifen auf den
tiefsten Grund unseres Herzens, um die kurze Spanne Zeit doch ja ganz
auszufüllen, und — was ist es dann oft, was wir hervorbringen? Schon
zehnmal Gejagtes oder gar das Gleichgültigste. Aber dann ist es ja nicht
der Inhalt, sondern die Miene, der Ton, was den Worten den Werth ver¬
leiht. Dann weiß der Freund vom Freunde, daß er jetzt von einem Ge¬
danken erfüllt ist; von dem ahnenden Bewußtsein des ersten Augenblickes
nach dem Scheiden.
Ähnliche Empfindungen hat wohl jedes reine Gemüth an einem schönen,
klaren Herbsttage bewegt. Ein solcher gießt über uns das Verständnis des
Scheidens aus. Und das Scheiden ist eine erschütternde Stärkung für das
sittliche Gemüth.
Wenn der Herbst begonnen hat, eilt jeder, der reisen kann und zu
reisen versteht, hinaus, um nun den längst gefaßten und bis jetzt klug hin¬
ausgeschobenen Beschluß auszuführen. Die Wärme wird nun nicht mehr
lästig, und der wechselnde Gesichtskreis strahlt erweitert in reinerer Klar¬
heit als bisher. Wer dann eine größere Kenntnis der Natur als Be¬
gleiterin mitnimmt, als dazu erforderlich ist, einen Laubwald von einem
Nadelholze zu unterscheiden, der darf auf einen Genuß rechnen, den ihm
nur der Herbst zu bieten verniag.
Wir sind auf unseren Wanderungen bisher zwar nicht kalt, aber doch
ohne tieferes Eingehen an den Waldungen vorübergezogen; daß uns im
Frühlinge die Nadelhölzer fesselten, war natürlich; denn das ist die einzige
Zeit, wo sie bildendes Leben, wo sie einiges junges, freudiges Grün zeigen,
während sic außerdem in starrer Einförmigkeit fast erstorben scheinen. Nun
aber kömmt mit schnellen Schritten die Zeit, welche uns nach dem Walde
lockt, welche das grüne Einerlei in bunte Mannigfaltigkeit auflöst.
Die Wärme vermindert sich, und das Leben in der Natur erstirbt
allmählich. Flora streut nur noch einige Blüten über den ersterbenden
Erdboden aus. Von den früheren Botinnen verläßt eine nach der anderen
ihren Platz. Die Thiere suchen einen Zufluchtsort; die einen in wärmerer
Zone, die anderen im bergenden Schoße der Erde, um sich daselbst zu
langem Schlafe niederzulegen. Die einjährigen Gewächse haben ihren
Kreislauf vollbracht und legen ihre Samenkörner als Vermächtnis in den
Schoß der treuen Mutter nieder. Die meisten sehen ihre Kinder nicht.
Nur einige — wer kennt sie nicht — breiten sich bis zum todten Herbste
in zahlreichen Geschlechtern über den Boden aus, den die Hand des Men-
schen für sic, und doch nicht für sie, immer wieder zubereitet. Ich meine
die Unkräuter. Wir alle kennen sie, die unverwüstlichen: das Täschelkraut,
die Biencnsauge, das Kreuzkraut, das einjährige Rispengras und den
Hühnerdarm. Sie lassen sich zuletzt selbst durch den eisigen Hauch des
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